Politische und ökonomische Probleme lähmen den Nordirak

Kurdische Krisen

Die Autonome Region Kurdistan im Irak durchlebt eine schwere ökonomische und politische Krise. Von der Aufbruchstimmung früherer Jahre ist nichts mehr zu spüren.

22 Toyotas habe er früher pro Woche verkauft, erzählt der Autohändler in Arbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Mittlerweile sei er froh, wenn er im Monat einen Wagen los wird. Es ist eine von Hunderten Geschichten über das jähe Ende des wirtschaftlichen Booms im kurdischen Nordirak, derzeit erlebt die Region eine tiefe Rezession.
Jahrzehntelang hatten Kurdinnen und Kurden im Irak unter Saddam Husseins mörderischer Diktatur, Kriegen und Sanktionen gelitten. Nach dessen Sturz im Jahr 2003, so schien es, war ein neues, goldenes Zeitalter angebrochen. Überall wurde gebaut, neue Apartmentblocks, Einkaufszentren, Schnellstraßen und Restaurants entstanden. Zeitweilig waren Immobilien teurer als in Istanbul, Autos selten älter als drei Jahre. Warnungen, dass dieses Wachstum, das einzig auf der Ölrente fußte, nicht nachhaltig sein könne, wurden in den Wind geschlagen. Umso härter trifft die Krise eine Gesellschaft, die auf sie völlig unvorbereitet ist.

Der Boom wurde im vergangenen Jahr von drei Entwicklungen fast schlagartig beendet. Der Dauerstreit der kurdischen Regionalregierung (KRG) mit der irakischen Regierung in Bagdad über die kurdischen Öllieferungen eskalierte. Die KRG möchte seit Jahren in der Region gefördertes Öl unabhängig exportieren, die irakische Regierung beharrt auf ihrem Verkaufsmonopol. 13 Prozent dieser irakischen Öleinnahmen sollen an die KRG fließen, die Zahlungen wurden im Herbst allerdings de facto eingestellt. Gleichzeitig erhöhte Saudi-Arabien seine Fördermenge und trieb dadurch die Preise in den Keller, um unliebsame Konkurrenten zu schädigen (Jungle World 46/2015). Der Irak und die kurdische Autonomieregion ­gehören zu den ersten, die dieser Politik zum Opfer gefallen sind, denn um ihre ausufernden Staatsausgaben zu begleichen, benötigen beide einen Ölpreis von über 100 US-Dollar pro Barrel, inzwischen liegt er allerdings bei 40 US-Dollar. Sinkende Öleinnahmen und der Konflikt mit der irakischen Regierung hätten ausgereicht, die Autonomieregion in eine tiefe Krise zu stürzen. Doch im August 2014 überfiel der »Islamische Staat« (IS) auch noch das von Yeziden bewohnte Sinjar-Gebirge, bedrohte Arbil und trieb Hunderttausende Flüchtlinge in den Nord­irak, wo inzwischen über eine Million Menschen aus Syrien und dem Zentralirak in Flüchtlingsunterkünften notdürftig untergebracht sind. Die kurdische Regierung sieht sich gezwungen, die Ausgaben für ihre Armee, die dem IS an einer Hunderte Kilometer langen Front gegenübersteht, zu erhöhen, während ausländische Investoren den Irak immer mehr meiden.
Bislang ragen überall nur halbfertige Rohbauten in den Himmel, 95 Prozent aller Bautätigkeit sei, so die Regierung, zum Stillstand gekommen. Noch hat die Krise die gigantische Immobilienblase, die in den vergangenen Jahren entstanden ist, nicht zum Platzen gebracht. Beginnen allerdings panikartige Massenverkäufe von Wohnungen und Häusern, auch weil Gehälter nicht mehr regelmäßig gezahlt werden können, Kredite beglichen werden müssen und vielen Firmen die Insolvenz droht, könnte sich das sehr schnell zu ändern.
Über eine Million Kurden sind direkt von staatlichen Zahlungen abhängig. Die korrupte und ineffiziente Bürokratie, die auf einem Patronagesystem der regierenden Parteien fußt, verschlingt einen großen Teil des Haushalts. Im privaten Sektor steigt die Arbeitslosigkeit. Mehr als ein Drittel aller Jugendlichen sollen inzwischen arbeitslos sein, viele träumen von einem Leben in Europa. Die letzten Gehälter, die die Regierung zahlen konnte, waren die für den August 2015. In vielen Banken kann inzwischen kein Bargeld mehr abgehoben werden, weitgehend leer sind auch all die neuen Restaurants, Cafés und Vergnügungsstätten, die in den vergangenen Jahren eröffnet haben; die Hotelpreise haben sich bereits halbiert, die ersten Nobelherbergen stehen kurz vor dem Bankrott. Sollte der Ölpreis nicht bald steigen oder der Konflikt mit der irakischen Regierung beigelegt werden, wird sich die Krise ausweiten.

Während sich die Lage im gesamten Nahen Osten täglich verschlechtert und der IS Kurdistan weiter bedroht, brach im Sommer zwischen den regierenden irakisch-kurdischen Parteien auch noch ein heftiger Streit um die Präsidentschaft aus, die Regierung ist seitdem paralysiert. Wie so oft ging es dabei um die Zukunft von Massoud Barzani, dem Präsidenten der Regionalregierung und Vorsitzenden der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Seine reguläre Amtszeit wäre 2013 ausgelaufen, doch einigte man sich damals darauf, dass das Parlament sie bis August 2015 verlängert. Als die anderen Parteien im Sommer forderten, dass Barzani einem Nachfolger Platz machen solle, verweigerte die KDP dies und verwies auf den Kriegszustand mit dem IS. Der Streit spitzte sich zu, die KDP boykottierte die Sitzungen des Parlaments und hinderte dessen Sprecher, ein Mitglied der Partei Goran, daran, Arbil überhaupt zu betreten. Sie machte deutlich, dass sie über den Präsidenten nicht verhandeln werde. Die anderen Parteien sprechen von einem Staatsstreich und werfen Barzani vor, ohne jede Legitimation weiterzuregieren. In der Folge zerbrach die im vergangenen Jahr mühsam gebildete Allparteienregierung, bislang konnte deshalb kein neuer Haushalt verabschiedet werden.
Die schwere ökonomische Krise wird durch die politische Lähmung verstärkt. Nachdem 2011 Aufbruchstimmung in der Region aufgekommen war, hofften auch im Nordirak viele auf weitere demokratische Veränderungen. Spätestens seit Barzani ohne Mandat weiterregiert, scheint klar, dass diese Erwartungen enttäuscht werden. In Suleymaniah und anderen Städten im Süden der kurdischen Region kam es deshalb im Oktober zu Protesten und Massendemonstrationen, die sich zum einen gegen die KDP richteten und zum anderen die miserable wirtschaftliche Lage thematisierten. Barzani sei auch nicht besser als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan oder andere Autokraten in der Region und die Floskeln über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien nur leeres Gerede, hieß es immer wieder.

Ein Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht, die Fronten sind verhärtet, ohne dass, wie in vergangenen Konflikten, die USA oder die EU noch als Vermittler auftreten. Die andere große Partei, die Patriotische Union Kurdistans, steht dem Iran nahe, während Barzani als enger Verbündeter der Türkei gilt und erst kürzlich türkische Truppen ins Land ließ, die eigenen Verlautbarungen zufolge in Mossul gegen den IS kämpfen sollen. Die innerkurdische Frontstellung spiegeln damit die Lage im ganzen Nahen Osten wider, von kurdischer Einigkeit kann keine Rede sein. Denn auch zwischen der PKK sowie ihrem syrischen Ableger, der PYD, und der KDP herrscht offene Animosität. Bei der Befreiung Sinjars vom IS im November kämpften sie noch mehr oder weniger Seite an Seite, nun wachsen die Spannungen. Nur wenige Menschen in Irakisch-Kurdistan wären wohl überrascht, käme es bald zwischen PKK und KDP zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
In den nordirakischen Flüchtlingslagern verschlechtert sich die humanitäre Situation ständig. Derweil verlassen nicht nur syrische Flüchtlinge die Lager in Richtung Europa, auch viele irakische Kurden fliehen. Fand bis vor einigen Jahren sogar eine Rückwanderung aus Europa statt, wollen heute fast alle nur weg. Vor allem junge Menschen sehen keine Zukunftsperspektive mehr in ihrem Land. Dass die Lage im kurdischen Nordirak im regionalen Vergleich noch immer recht gut ist, lassen sie als Argument nicht gelten.