Das Verhältnis der Türkei zur EU

Destabilisierung zahlt sich aus

Die türkische Regierung heizt regionale Konflikte an, um ihre Gegner zu schwächen. Dennoch gilt sie der EU und den USA als verlässlicher Partner.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kann zufrieden sein. Im vergangenen Jahr ist es ihm gelungen, fast alle demokratischen Mechanismen in der Türkei auszuhebeln und die Krisen im Nachbarland Syrien geschickt zur eigenen Machtstabilisierung zu nutzen, ohne nennenswerte innen- oder außenpolitische Konsequenzen befürchten zu müssen. Am 17. Dezember erinnerte er in einer Ansprache die Bevölkerung lakonisch daran, dass er immer noch, unabhängig von der eigenen Person, ein Präsidialsystem für vernünftig halte. Mittlerweile benutzt er fast durchgängig ein royales »wir«, wenn er seine Ansichten mitteilt. »Wenn wir von einer neuen Türkei, einer neuen Verfassung und einem Präsidialsystem sprechen, denken wir nicht an eigene Vorteile«, sagte er vor Anhängern am Rande der Feierlichkeiten zum 742. Todestag des Sufi-Philosophen Rumi in Konya.
Jalal al-Din Muhammad al-Rumi (1207–1273) war ein persischer Sufi-Mystiker und einer der bedeutendsten persischsprachigen Dichter des Mittelalters. »Wenn der Dumme redet, dann verstumme klug« gehört zu den unzähligen vieldeutigen Versen Rumis, von denen der türkische Präsident sich jedoch leider nicht leiten lässt. Vermutlich kennt er sie nicht. »Ich glaube daran, dass keine Partei und kein Politiker unentschlossen bleiben kann, wenn die Nation so einstimmig ihren Willen für eine neue Verfassung äußert«, verkündete er in Konya. »Wenn sie unentschlossen bleiben, müssen sie dafür bezahlen. Wenn Gott will, werden wir die Türkei zu ihren für 2023 angesetzten Zielen führen.«

In acht Jahren feiert die Türkei den 100. Jahrestag der Republikgründung. Bis dahin möchte Erdoğan in der Nachfolge von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die Türkei in seinen eigenen Worten »neu auferstehen lassen«. Groß, reich und global mächtig sind die Vokabeln, die die Phantasie des Präsidenten beflügeln. Mehrere Bauprojekte, wie die größte Moschee der Welt auf der asiatischen Seite Istanbuls, der größte Flughafen der Welt und ein Kanal, der parallel zum Bosporus die Stadt teilen soll, versinnbildlichen den Größenwahn Erdoğans. Stadtplaner, Umweltschützer und viele andere Kritiker warnen vergeblich vor der Erdbebengefahr und den ökologischen Folgen der Abholzung des letzten großen Waldgebietes im Raum Istanbul.
Die türkischen Medien sind mittlerweile so eingeschüchtert durch Verhaftungen, Prozesse und anderen Repressalien, dass es viel Erfahrung benötigt, um zwischen den Zeilen noch zu verstehen, wann sie die Ansichten Erdoğans nicht teilen. Die einst mächtige Tageszeitung Hürriyet etwa traut sich nur noch auf ihrem englischsprachigen Online-Portal im letzten Absatz der Berichterstattung über die Rede Erdoğans in Konya darauf hinzuweisen, dass nicht alle AKP-Politiker die Absicht des Präsidenten gutheißen, in zwei Referenden eine Verfassungsänderung und die Einführung eines Präsidialsystems durchzusetzen. Unzählige Prozesse und mehrere Angriffe AKP-naher Hooligans auf das Redaktionsgebäude und Journalisten zeigen Wirkung. Unlängst trennte sich Hürriyet vom Chef des erfolgreichen Online-Portals, Bülent Mumay. Bereits vor den Parlamentswahlen am 1. November war dem Do­ğan-Verlag nahegelegt worden, Mumay zum »eigenen Schutz« zu beurlauben. Hürriyet Online hatte mehrfach die Grenzen der Selbstzensur in der Türkei überschritten. Das Portal thematisierte die taktische Eskalation des Kurdenkonfliktes vor den Parlamentswahlen mit der Überschrift »neue Wahlstrategie« und berichtete trotz des verhängten Nachrichtenverbots über die Hintergründe des Attentates von Ankara.
Der letzte Schlag gegen kritische Medien in der Türkei war die Festnahme zweier Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet. Kurz vor dem EU-Sondergipfel mit der Türkei zur Flüchtlingskrise Ende November wurden in Istanbul der Chefredakteur Can Dündar und sein Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, inhaftiert. Den regierungskritischen Journalisten wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Spionage vorgeworfen. Hintergrund ist ein von Dündar und Gül verfasster Bericht über Waffenlieferungen von der Türkei an Islamisten in Syrien.
International wurde die türkische Regierung für die Festnahmen gerügt und dazu ermahnt, künftig demokratischer zu sein. Doch das interessiert sie nicht. Sie freut sich gerade auf die von der EU versprochenen drei Milliarden Euro für die bessere Versorgung der Flüchtlinge aus den Nachbarländern. Ob der Mitte Dezember von Amnesty International veröffentlichte Bericht an der Entscheidung etwas ändert, ist fraglich. Die Menschenrechtsorganisation hat der Türkei die Abschiebung von Flüchtlingen in das Bürgerkriegsland Syrien und in den Irak vorgeworfen. Seit September hätten die Behörden Hunderte Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei festgenommen und sie vor die Wahl gestellt, entweder in ihre Herkunftsländer abgeschoben oder auf unbestimmte Zeit festgehalten zu werden. Damit verstoße die Türkei »eindeutig gegen internationales Recht« und handele »im starken Kontrast zu ihrer bisherigen sehr humanitären Haltung«, sagte Wiebke Judith, Asylexpertin bei Amnesty International in Deutschland, am 16. Dezember. Die türkischen Behörden bestreiten die Vorwürfe.

Skandalös ist in diesem Zusammenhang vor allem das Hofieren der türkischen Regierung in der Flüchtlingsfrage seitens der EU. Sowohl die EU als auch die USA ignorieren die fatale Rolle der Türkei in der Eskalation der Konflikte in Syrien und im Nordirak. Die türkische Historikerin Maya Arakon brachte es Ende November auf den Punkt: »Die türkische Regierung kann keine Terroranschläge verurteilen, wenn sie gleichzeitig den Islamischen Staat auf dem eigenen Territorium unterstützt«, kommentierte sie die Kondolenzbotschaften der türkischen Regierung nach dem terroristischen Anschlag in Paris. Bei den Ermittlungen stehen zwar Jihadisten aus Europa als Täter im Vordergrund, die Drahtzieher operierten jedoch dank eines ungehinderten Reiseverkehrs zwischen Syrien, der Türkei und Europa.
Die türkische Opposition muss derzeit hilflos zusehen, wie alle Ränke der AKP-Regierung aufgehen, ohne nennenswerte außenpolitische Konsequenzen nach sich zu ziehen. Spätestens nach dem Besuch von Angela Merkel in Ankara erscheint das europäische Verhältnis zur Türkei widersprüchlich, wenn nicht gar bigott. Die »Flüchtlingskrise« hängt direkt mit den Machtkämpfen in der Region zusammen. Der Konflikt mit den Kurden und der Wunsch Erdoğans, mit internationaler Billigung ein Präsidialsystem einzurichten, haben zu einem von der Türkei angeheizten unheilvollen Stellvertreterkrieg zwischen Jihadisten und Kurden geführt. Je mehr Anschläge es gibt, desto mehr Verständnis erfährt die türkische Regierung aus den USA und der EU für ihre »Anti-Terror-Politik«. Die derzeitige Terroreskalation steht damit in Zusammenhang. Die Türkei beteiligt sich offiziell an der Allianz gegen den »Islamischen Staat« (IS). Gleichzeitig bekämpft das türkische Militär konkret vor allem die Kurden.
Eine Analyse der Ereignisse nach den ersten Parlamentswahlen im Juni sowie dem Scheitern einer Regierungsbildung hilft, die Hintergründe zu verstehen. Die Eskalation der Gewalt folgte einem Anschlag in Suruç, der am 20. Juli 34 Menschen in den Tod riss. Dieser Vorfall diente der Türkei zu einer auf die internationale Öffentlichkeit gemünzten Demonstration, den IS, dem das Attentat zugeschrieben wurde, wirksam bekämpfen zu wollen. Im Anschluss begann die türkische Luftwaffe innerhalb der internationalen Anti-Terror-Allianz fast ausschließlich Bombenangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak zu fliegen und brach somit unangekündigt einen seit Jahren sich hinschleppenden Friedensprozess mit den Kurden ab. Die prokurdische Oppositionspartei HDP wird trotz einer stringenten Friedenspolitik systematisch diskreditiert, gegen die Parteispitze ermittelt die Staatsanwaltschaft. Bereits der Versuch einer Delegation, Anfang September die unter Ausgangssperre stehende Stadt Cizre nahe der syrischen und der irakischen Grenze zu besuchen, wurde unterbunden. Derzeit gelten in mehreren Provinzen im Südosten der Türkei Notstandsgesetze.
Die Ausgangssperren dienen der türkischen Armee beziehungsweise Polizei immer wieder dazu, Zivilisten auf offener Strasse zu erschießen. Das Feuer wird meist aus patrouillierenden Panzerfahrzeugen eröffnet, so dass immer unklar bleibt, wer genau die Täter sind. Eine schwangere Frau, Mutter von fünf Kindern, wurde am 20. November in Nusaybin auf ihrer Haustürschwelle erschossen. Eine Delegation der HDP wurde zwei Tage später mit Tränengasattacken daran gehindert, dort Gespräche zu führen. Am 17. Dezember vermeldete Anadolu Ajans, die staatliche Nachrichtenagentur, die mittlerweile als reines Propagandamedium der türkischen Regierung fungiert, zwei PKK-Terroristen seien in Cizre erschossen worden. Auf Fotos ist ein elfjähriger Junge zu sehen, der reglos auf dem Bauch liegt. Billige Hausschuhe sind von seinen Füßen gerutscht. »Guerilla in Hausschlappen«, kommentierten Kurden aus der Region in den sozialen Medien. Eine 30jährige Hausfrau mit drei Kindern wurde als zweite »PKK-Terroristin« getötet.

Die türkische Regierung steckt dennoch in einem Dilemma. Sie konnte nicht verschleiern, dass die Selbstmordattentäter von Ankara, die am 10. Oktober über 100 Oppositionelle bei einer Friedensdemonstration in den Tod rissen, bekannte türkische Jihadisten waren, die von ihren eigenen Angehörigen zuvor als IS-Terroristen angezeigt worden waren und die die türkischen Sicherheitskräfte unbehelligt zwischen Syrien und der Türkei hin- und herreisen lassen hatten. Selbst der früher regierungsnahe Kolumnist Cevdet Candar schrieb empört, der Kurdenhass der Regierung übersteige ihr Vermögen, die jihadistische Gefahr einzuschätzen. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu paraphrasierte den Zusammenhang nach den Anschlägen von Ankara noch treffender in einem verwirrten Moment: Der Unterschied zwischen dem Islamverständnis des IS und der AKP betrage nicht 180, sondern 360 Grad.
Trotz völlig anderer Prognosen erreichte die AKP am 1. November 51 Prozent der Wählerstimmen. Wahlbeobachter stellten wegen der Destabilisierung in den Kurdengebieten dort zwar unfaire Wahlbedingungen fest, Wahlbetrug im großen Stil konnte aber nicht nachgewiesen werden. Ausgeschlossen werden kann er allerdings auch nicht. Vor allem die Auszählung der Stimmen im Ausland und die zentralen Hochrechnungsmechanismen sind letztlich von außen nicht kontrollierbar. Der Destabilisierungskurs hat der Regierung – ähnlich wie in Syrien – bislang leider den Vorteil verschafft, im Ausland als verlässlichster Partner zu wirken, obwohl innen- und regionalpolitisch gerade das Gegenteil der Fall ist.