Die Grenze zwischen Arm und Reich

Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich

Die Grenzen zwischen Arm und Reich werden in Deutschland immer undurchlässiger. Die OECD mahnt mehr sozialen Ausgleich an, doch die einstige Arbeiterpartei SPD will keine Umverteilung.

Professionelle Datenverkäufer wie die Schufa ziehen klare Grenzen zwischen Arm und Reich. Wer in einer Gegend mit vielen verschuldeten Nachbarn lebt, bekommt bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit Minuspunkte. Die Postleitzahl genügt Auskunfteien oder Banken als Anhaltspunkt. Auch prekariatsverdächtige Vornamen wie Chantal oder Kevin sehen manche Datensammler als Malus. Die Folge: Wer als arm eingestuft wird, muss für Kredite höhere Zinsen zahlen oder Verträge mit schlechteren Konditionen in Kauf nehmen als die Kunden mit – wie es im Finanzjargon heißt – guter Bonität.
Die Grünen wollen diese absurd anmutenden Formen des sogenannten Scoring verbieten. Doch ihr Gesetzentwurf hat wenig Chancen auf Erfolg. Gemildert würde mit einem Verbot immerhin die Diskriminierung vermeintlich oder tatsächlich Armer. Wer einmal in einer schlechten Wohngegend zu Hause ist, hat immer schlechtere Aussichten, in eine mit besserer Bewertung zu kommen. Denn die Grenzen zwischen Arm und Reich werden in Deutschland immer undurchlässiger. Daran ändern auch die guten Konjunkturdaten nichts. Trotz Aufschwung hat die Spreizung der Einkommen in Deutschland nicht abgenommen, aber die Aufstiegschancen sind gesunken. Das zeigt der aktuelle Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Die ungleiche Einkommensverteilung bleibt, gleichzeitig sind die Aufstiegschancen in den vergangenen drei Jahrzehnten gesunken. Die Folge: Wer arm ist, bleibt arm. »Eine Verfestigung der Verteilung zementiert Ungleichheitsstrukturen und beschneidet Chancengleichheit in einem erheblichen Maß«, analysiert die Autorin der Studie, Dorothee Spannagel. Dieser Trend besteht seit Jahrzehnten.

In den späten sechziger und in den siebziger Jahren ging in der Bundesrepublik der politische Kurs klar in Richtung sozialer Angleichung – dank Außerparlamentarischer Opposition und Willy Brandt, hoher Lohnzuwächse für Arbeiter, kostenloser Lehrmittel, dem Ausbau von Bildungsinstitutionen und einer ganzen Palette von Programmen von »Trimm Dich« über kosten­lose Zahnspangen bis zum sozialen Wohnungsbau. Bereits unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt rückte die Bundesregierung davon ab. Schmidts christdemokratischer Nachfolger Helmut Kohl brach völlig mit dieser Politik. In den achtziger Jahren begann eine Phase wachsender sozialer Ungleichheit im Westen, gemildert durch den von der »Wiedervereinigung« ausgelösten Konjunkturboom. Helmut Kohls Festhalten am sogenannten Rheinischen Kapitalismus, zu dem ein starker Sozialstaat gehörte, wird im Rückblick von konservativen und liberalen Ökonomen als Reformunfähigkeit denunziert. Die rot-grüne Bundesregierung beeilte sich ab 1998, ihre »Reformfähigkeit« unter Beweis zu stellen. Das Ergebnis: ein weitaus massiverer ökonomischer Polarisierungsschub als in den achtziger Jahren. Die »Hartz«-Reformen, vor allem aber die Deregulierung des Arbeitsmarktes, führten zu einer mas­siven Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und zum Ausbau des Niedriglohnsektors. Die Einkommen aus Unternehmensgewinnen und Kapitalanlagen wuchsen dagegen dank der entsprechenden Steuerpolitik.
In den achtziger Jahren galten in Deutschland rund zwölf Prozent der Bevölkerung als arm, heute sind es 16 Prozent. Als armutsgefährdet gelten Alleinstehende, die netto knapp 1 000 Euro im Monat zur Verfügung haben und Paare mit zwei Kindern, die auf rund 2 000 Euro monatlich kommen. Nach einer Studie des Deutschen Ins­tituts für Wirtschaftsforschung gehört einem Prozent der Deutschen ein Drittel des gesamten Vermögens. 40 000 Haushalte – das entspricht einem Promille der Bevölkerung – besitzen 17 Prozent des Vermögens. Und das vergrößert sich dank des guten Wirtschaftswachstums weiter. Viele Unternehmen weisen Rekordgewinne aus, die Export­raten erzielen einen Rekord nach dem anderen. Doch davon haben 40 Prozent der deutschen Haushalte nichts. »Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen, während viele Arme auch von einem länger andauernden wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitieren«, schreibt Spannagel in ihrer Studie.

Schon Ende der neunziger Jahre konstatierte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in der die Indus­trie­länder sich zusammengeschlossen haben, dass die Ungleichheit in Deutschland stärker zugenommen hatte als in den meisten anderen der damals 30 Mitgliedsstaaten. Auch dieses Jahr kritisierte die Organisation die ungleiche Verteilung. Danach besitzen in Deutschland die reichsten zehn Prozent 60 Prozent der Nettohaushaltsvermögen, im OECD-Schnitt entfallen auf die zehn Prozent der Reichsten nur 50 Prozent der Vermögen. Seit langem mahnt die OECD, die ungerechte Finanzierung der Sozialversicherung in Deutschland auszugleichen.
Aber das Gegenteil passiert. Beiträge zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sind in der Bundesrepublik gedeckelt. Spitzenverdiener zahlen prozentual viel weniger als Geringverdiener, weil nur bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe Beiträge bezahlt werden müssen. Auch das führt zu einer immer größeren Spaltung zwischen Arm und Reich. »Unsere Forschung belegt, dass Ungleichheit dem Wirtschaftswachstum schadet. Die Politik hat also nicht nur gesellschaftliche Gründe, gegen Ungleichheit anzugehen, sondern auch wirtschaftliche«, so OECD-Generalsekretär José Ángel Gurría. »Handeln die Regierungen nicht, dann schwächen sie das soziale Gefüge ihrer Länder und längerfristig auch das Wachstum.«

Den Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel interessieren solche Analysen offenbar nicht. Forderungen nach Umverteilung wies er zuletzt auf dem SPD-Parteitag imMitte Dezember rüde zurück. Die Wissenschaftlerin Spannagel dagegen plädiert für eine höhere Besteuerung insbesondere extrem reicher Haushalte, etwa durch die Abschaffung der pauschalen Abgeltungssteuer und Reformen bei der Erbschaftsteuer, um einer noch größeren Kluft zwischen Armen und Wohlabenden zu begegnen. Doch das ist mit der jetzigen SPD nicht zu machen – ohne sie aber tragischerweise auch nicht.
Arm und Reich trennt allerdings mehr als der Kontostand. Nicht nur die Superreichen verschanzen sich in speziellen Wohngegenden und schotten sich mit Hilfe hochpreisiger Ressorts, Clubs und Restaurants ab. Auch die lediglich gut Verdienenden, darunter durchaus auch Alternative und Linke, halten sich – und erst recht ihre Kinder – gerne von den Kevins und Chantals fern. So manch alte Klassenkämpferin und alter Klassenkämpfer geben die Tochter in die entfernte Katholische Grundschule, weil die nähergelegene staat­liche mit den vielen Kindern aus sozialen Brennpunkten ihrer Meinung nach nicht die richtige Förderung verspricht. Eine »Klubmentalität« konstatiert die Soziologin Cornelia Koppetsch von der Universität Darmstadt – auch und gerade bei Linken. Die Grenzen nach unten werden scharf gezogen. Die Nutzung von Privatkindergärten und Eliteschulen sind längst kein Ausdruck eines konservativen Lebensstils mehr. Der Feinkostladen aus dem vergangenen Jahrhundert ist heute der Bioladen, eine vegane Ernährungsweise eine hervorragende Form der Distinktion.
Unter jenen mit einem subkulturellen oder zumindest in der Selbstwahrnehmung avantgardistischen Lebensstil gibt es etliche, die von 1 000 Euro im Monat leben und weder von ihrem Umfeld als arm begriffen werden, noch sich selbst so begreifen würden. Denn vielfach ist ihr Lebensstil freiwillig gewählt, und mit der Wahl ihrer Nahrung, Kleidung und ihres Kulturkonsums signalisieren sie, dass sie selbstverständlich sozial mobil sind. Und viele steigen früher oder später auch tatsächlich auf, verdienen gut und fragen sich dann, warum es all die anderen mit wenig Geld nicht genauso machen. Sie stehen dem Einreißen der Grenzen zwischen Arm und Reich mindestens so im Weg wie Sigmar Gabriel.