Grenzstadt am Kanal. Ein Bericht über den »Dschungel« von Calais

Warten am Kanal

Tausende Flüchtlinge warten in einer informellen Siedlung nahe der französischen Stadt Calais auf die Chance, nach Großbritannien zu gelangen. Das wird immer schwieriger.

Es gibt mehrere Einkaufsstraßen mit Dutzenden von Läden, Wirtshäuser, meist mit afghanischer Küche, Brotbackstuben, eine Kirche mit zwei Kuppeldächern aus Wellblech, vor der ein riesiges Schild mit äthiopischer Schrift steht, eine Schule, die englische und französische Sprachkurse anbietet, ein Handwerksatelier mit Ausbildungsstätte, ein Theater und eine Künstlerecke. Dazwischen stehen Zelte mit grünen, blauen und schwarzen Plastikplanen und einzelne befestigte Holzhäuser. All dies findet man in der allgemein als »Jungle« bekannten informellen Siedlung mit derzeit zwischen 5 000 und 6 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die östlich der franzö­sischen Hafenstadt Calais an der Ärmelkanalküste entstanden ist.
Nur geteerte Straßen, Hausnummern und offizielle Adressen gibt es nicht. Die meisten hier betrachten ihre Behausung nur als Provisorium, denn sie wollen möglichst schnell nach Großbritannien. Doch der Weg zur Hafenzone von Calais, wo sich einige gerne auf einen LKW oder ins Innere einer Fähre schmuggeln würden, ist von einer dreifachen Stacheldrahtumzäunung mit Kameras umgeben. Überdies säumen zahlreiche Gendarmeriefahrzeuge die Straßen.
Informelle Siedlungen werden im Französischen als bidonvilles bezeichnet, solche »Kanisterstädte« gab es in den sechziger Jahren noch in größerer Zahl im nördlichen Pariser Umland. Die bidonville nahe Calais ist ein Resultat des bestehenden Grenzregimes. In der EU hindert man zwar Menschen in der Regel eher an der Ein- als an der Ausreise. Dies bedeutet aber auch, dass die Staaten, die zum Ziel vieler Migranten werden, oftmals vor- und ausgelagerte Kontrollen auf dem Boden anderer Länder durchsetzen. Dementsprechende Verträge gibt es mit afrikanischen Ländern, Frankreich übernimmt diese Rolle nun für seinen britischen Nachbarn.
Menschen aus Syrien und dem Irak, Afghanistan und dem Sudan träumen eher von einem neuen Leben in Großbritannien, als dass sie auf dem Kontinent Zuflucht suchen würden. Auch in Frankreich wären sie selbst aus Sicht des herrschenden Rechtsverständnisses in der Regel asylberechtigt. Doch sie ziehen Großbritannien vor, oft weil sie aus ehemaligen britischen Kolonien kommen, Englisch sprechen und dort bereits Familienmitglieder haben, aber auch wegen des deregulierten Arbeitsmarkts – es ist für »illegale« Migranten leichter, dort einen Job zu bekommen.

Zwei junge Männer erklären auf Arabisch, sie seien »Kuwait bidoun«, Kuwaitis, denen in der Golfmonarchie die Staatsangehörigkeit verweigert wird, obwohl ihre Familien seit Generationen dort ansässig waren. Eine Zukunft sehen sie für sich nur in Großbritannien, über Frankreich haben sie Negatives vom Anerkennungsverfahren gehört und sie haben, aus einer früheren britischen Kolonie kommend, Kenntnisse der Sprache Shakespeares, nicht jener Molières.
Die harte französische Praxis im Asylverfahren schreckt viele von einer Antragstellung in Frankreich ab, die Anerkennungsrate liegt noch niedriger als in Deutschland. Bis vor kurzem betrug sie rund 18 Prozent, mit der Zahl syrischer Flüchtlinge stieg sie um etwa fünf Prozentpunkte. Es gibt noch den Nationalen Asylgerichtshof als einzige Berufungsinstanz, doch übersteigt die endgültige Anerkennungsquote 30 Prozent nicht.
Vor 15 Jahren unterhielt das Rote Kreuz ein großes Camp für fast 2 000 Menschen in Sangatte, einige Kilometer westlich von Calais (Jungle World 26/2002), zuvor lebten die Flüchtlinge auf innerstädtischen Flächen rund um das Rathaus. Damals war es noch relativ einfach, in einem LKW oder auf einem Schiff nach Großbritannien zu gelangen. Doch ordneten die damaligen Innenminister Frankreichs und Großbritanniens, Nicolas Sarkozy und Jack Straw, im November 2002 die ersatzlose Schließung des Lagers an.

Daraufhin bildeten sich als »Jungles« bezeichnete illegale Camps in den Wäldern rund um Calais. In den vergangenen Jahren wurden auch sie nacheinander geräumt. So entstand aus vielen kleinen »Jungles« ein größerer. In Grande-Synthe in der Nähe von Dunkerque, rund 30 Kilometer weiter östlich, leben weitere 2 000 Menschen in einem ähnlichen Camp. Doch den Ärmelkanal zu überwinden, wird immer schwieriger; eingesetzt werden nun etwa Infrarotkameras und Detektoren, um Menschen in den Fahrzeugen aufzuspüren. »Früher schafften es vielleicht 150 Menschen pro Nacht, nach England durchzukommen. Heute sollen es noch vier oder fünf sein«, meint Jean-­Pierre, der als freiwilliger Helfer seit fast 20 Jahren die Situation verfolgt und oft aus Paris hierher fährt. So wächst der »Jungle« von Calais.
Längst hat sich ein Teil der Bevölkerung, aus Pragmatismus oder aus moralischen Gründen, mit dessen Existenz abgefunden. Im Brotbackzelt von afghanischen Händlern klappt die Verständigung auf Persisch. Wie schaffen sie eigentlich Vorräte heran? Müssen sie alles selbst herbeiholen? Nein, meinen sie, zwar führen sie viel selbst heran, doch auch örtliche Geschäftsleute und Großhändler belieferten den »Jungle« inzwischen – Geld sei Geld. Andere Menschen haben eher ideelle Motive. Mélanie*, eine Ohrenärztin, gibt Geflüchteten Sprachkurse. Virginie betreibt ein Projekt mit Kindern aus dem Camp und Schulkindern in einer Nachbarstadt, beide Gruppen malen Postkarten füreinander, um sich besser kennenzulernen. Zahllose Menschen verkehren im Camp, Mitarbeiter von Menschenrechtsgruppen und NGOs, aber auch Familienangehörige und gewerbsmäßig tätige Schlepper. Britische NGOs liefern Kleidungsstücke, säckeweise Nahrungsmittel und Zement.
Doch für einen Großteil der örtlichen Bevölkerung bleibt der »Jungle« ein missliebiger Brennpunkt, ja ein Schandfleck. 49,1 Prozent der Stimmen erhielt der Front National hier in der ersten Runde der französischen Regionalparlamentswahlen am 6. Dezember. Die konservative Bürgermeisterin Nathalie Bouchart wollte im Oktober die Armee herbeirufen. Ende November nutzte sie die Vollmachten, die der derzeit geltende Ausnahmezustand überall den Exekutivorganen verleiht, und überredete den Präfekten des Bezirks, die Zufahrtstraße zum Hafen zur Sperrzone zu erklären, die unberechtigt zu betreten mit einer Haftstrafe geahndet werden kann.

Auch die französische Regierung will Härte zeigen. Am 21. Oktober wurden mehrere Hundert Menschen, in ihrer Mehrzahl Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Eritrea, in der Nähe des Bahnhofs von Calais verhaftet, in Ausweisungsgewahrsam genommen und auf Abschiebegefängnisse in fast ganz Frankreich verteilt. Jean-Louis Galland, Haftprüfungsrichter im südfranzösischen Nîmes, ordnete am 23. Oktober ihre Freilassung an und bat in seiner Urteilsbegründung die Regierung um Auskunft, wie sie Menschen nach Syrien abzuschieben gedenke. Die Repression ist eher eine politische Demonstration der Staatsmacht, nach Inhaftierung oder Vertreibung kehren die Flüchtlinge nach Calais zurück.
Wohl deshalb lässt die Regierung nun einen Teil des bidonville durch ein Containerlager ersetzen. Vorvergangene Woche kamen die Planierraupen, die ersten Wohncontainer wurden errichtet. Platz soll hier jedoch nur für 1 500 Menschen, also einen Bruchteil der derzeitigen Bewohner, geschaffen werden. Das Containerlager soll von Gittern umgeben sein und nur mit einer Einlasserlaubnis betreten werden dürfen. Auf diese Weise kann man die Unterstützer von den Flüchtlingen fernhalten.

* Name von der Redaktion ­geändert