Die politische Ökonomie des »Islamischen Staats«

Der Kalif muss sparen

Die Luftangriffe auf Öltransporte und der Verlust von Territorien mindern die Einnahmen des »Islamische Staats«. Doch auch mit geringeren Ressourcen bleiben die Jihadisten gefährlich.

Manchmal ist gerade das nicht Bemerkenswerte bemerkenswert. So sollte man von einer der Apokalypse verpflichteten Terrororganisation wie dem »Islamischen Staat« (IS) erwarten, dass sie gehörig auf die Reichen schimpft und die Gleichheit postuliert, wie es millenaristische Bewegungen in der Vergangenheit meist getan haben. Doch die Wirtschaftspolitik des IS ist recht unoriginell und kompromisslerisch. Propagiert wird ein mit staatkapitalistischer Lenkung kombiniertes marktwirtschaftliches System.
»Die Unabhängigkeit des Investors von der Regierung der Provinz ist das bevorzugte Mittel zur Verwaltung des Reichtums, da so die lokale Produktion erhöht wird«, heißt es etwa in den Anfang Dezember vom Guardian veröffentlichten Dokumenten, die im Herbst 2014 nach der Ausrufung des Kalifats erstellt wurden. Handel und Industrie sollen gefördert werden, dem Investor wird »umfassender Schutz« zugesichert, sofern seine Tätigkeit »mit den Interessen des Islamischen Staats« übereinstimmt. Die Regierung soll aber auch eigene Betriebe gründen und mittels eines Komitees auf Produktion und Investitionen Einfluss nehmen. Die Jihadisten wollen sozialen Belangen Rechnung tragen, mahnen aber auch zur Sparsamkeit bei den Staatsausgaben.
Der staatliche Einfluss soll größer sein, als es derzeit vorherrschende wirtschaftliberale Dogmen vorsehen, doch könnte jede nationalistische Regierung ein ähnliches Programm entwerfen. Anders als etwa beim Erdenken neuer Hinrichtungsmethoden sind die Jihadisten in der Wirtschaftpolitik nicht wirklich mit dem Herzen dabei. Sie planen pragmatisch. Einerseits muss die Kontrolle gewahrt werden, andererseits hat der rudimentäre Verwaltungsapparat des IS nicht den Zugriff einer gut organisierten und etablierten Bürokratie auf Wirtschaft und Gesellschaft, so dass der Privatinitiative Raum gelassen werden muss.
Die IS-Dokumente über den geplanten Staatsaufbau, die neben der Wirtschaftspolitik auch Verwaltung, Bildung und andere Bereiche thematisieren, sind jedoch nicht, wie nach ihrer Veröffentlichung häufig behauptet wurde, ein Beleg dafür, dass die Jihadisten weniger fanatisch seien, als man geglaubt hat. Die Herrschaft über ein Territorium ist im jihadistischen Konzept des IS, anders als noch für al-Qaida, essentiell, daher wurde ein Kalifat ausgerufen. Doch der »Islamische Staat« dient nur der Vorbereitung auf die Apokalypse. Er gilt den Jihadisten als der Ort, an dem man nach den Regeln der Sharia leben kann (und als wahrer Gläubiger leben muss), nicht aber eine irdische Utopie verwirklicht. Paläste für alle Frommen gibt es erst im Paradies.
In der Praxis muss der IS ohnehin dem bereits etablierten Modell des Terrorkonzerns folgen, der von einem Warlord geführt wird. Wer ein Territorium erobert, aber nicht mit einer offiziellen Anerkennung seiner Herrschaft durch die »internationale Gemeinschaft« und eine formale Integration in den Weltmarkt rechnen kann, muss alle verfügbaren Einnahmequellen erschließen und, da Außenhandel unerlässlich ist, den Schmuggel organisieren.

Der IS gilt zwar als reichste Terrorgruppe der Welt, sehr hoch sind die Einnahmen jedoch nicht. Die Schätzungen von Regierungen und Think Tanks können nicht überprüft werden. Dass im Kalifat pro Tag 30 000 bis 40 000 Barrel Öl gefördert werden, dürfte eine relativ zuverlässige Angabe sein, da Standorte und Kapazitäten der Quellen recht gut bekannt sind. Eine Basis für die Akkumulation großer Reichtümer ist die Ölproduktion nicht, zumal ein Teil als Treibstoff für den eigenen Militärapparat benötigt wird. Für die Zeit vor dem Herbst vorigen Jahres schätzte die US-Regierung die Öleinnahmen des IS auf knapp 50 Millionen Dollar pro Monat, eine Angabe, die in der Größenordnung von diversen Think Tanks bestätigt wird. Die Behauptung des US-Offiziers Steve Warren, dass die Luftangriffe der Koalition 90 Prozent der Ölexports unterbunden hätten, mag übertrieben sein, doch zweifellos gibt es wegen der intensiveren Bombardierung erhebliche Verluste, die nun wohl einen Transport in Fahrzeugen notwendig machen, die weniger auffällig sind als Tanklaster. Hinzu kommen die üblichen Kosten des Schmuggels wie die Bezahlung von Zwischenhändlern, Polizisten und Politikern, überdies fallen auch in einem Niedriglohnland wie dem Kalifat Produktionskosten an. Bei dem extrem niedrigen Ölpreis von unter 40 Dollar pro Barrel, den der IS ja unterbieten muss, dürfte nicht viel übrigbleiben. Der IS hat auf die Verluste offenbar mit Gehaltskürzungen und der Erhebung neuer Steuern reagiert.
Der Ölverkauf machte wahrscheinlich knapp die Hälfte der Einnahmen des IS aus. Der Kalif muss nun sparen, zumal auch die Einnahmen aus anderen Quellen gesunken sind. Anfangs hat der IS insgesamt einen wahrscheinlich zweistelligen Millionenbetrag an Lösegeld eingenommen. Doch lukrativ sind vor allem europäische Geiseln, und die sind den Jihadisten ausgegangen. Auf wachsende Probleme dürfte auch der Handel mit geplünderten antiken Fundstücken stoßen, da die Aussicht, wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation belangt zu werden, Zwischenhändler und Endabnehmer abschreckt.

Es bleiben neben dem Sklavenhandel (siehe Seite 4) als interne Einnahmequellen vornehmlich die Erhebung von Steuern und Abgaben sowie diverse Formen der Schutzgelderpressung – die Grenzen sind hier fließend. Doch bei aller Brutalität sind der Abschöpfung Grenzen gesetzt. Die Auswanderung ist zwar verboten, kann aber nicht gänzlich unterbunden werden, denn die Herrschaft des IS beruht auf exemplarischem Terror, nicht auf flächendeckender bürokratischer Kontrolle.
Uneinigkeit herrscht unter den Experten über die Bedeutung ausländischer Spender. Hält der IS den Sponsorenanteil an den Einnahmen bewusst gering, um ökonomisch autark zu bleiben? Oder haben die Spender nur andere Wege gefunden, das Geld an der intensiveren Kontrolle elektronischer Überweisungen vorbeizuschleusen? Unklar ist auch, ob der Handel mit Amphetamin und dessen Derivaten relevante Einnahmen bringt. Sicher ist, dass der IS über keine Geldquelle verfügt, die eine Akkumulation und damit eine bedeutende Investitionstätigkeit erlauben würde.
Wahrscheinlich lebt der IS von der Substanz. In der Phase der Eroberungen haben sich die Jihadisten große Mengen an Bargeld, Wertgegenständen und Konsumgütern sowie Waffen und Munition angeeignet. Diese Vorräte schmelzen. Im vergangenen Jahr betrug das Budget des Kalifats wohl etwa eine Milliarde Dollar, in diesem Jahr dürfte es deutlich geringer ausfallen. Selbst bei anderen Prioritäten der Herrschenden wäre dies für eine Bevölkerung von wohl immer noch fünf bis sechs Millionen Menschen nicht viel, und auch viele Untertanen des Kalifen zehren von Ersparnissen, die bald aufgebraucht sein dürften.
Die Einnahmequellen des IS trockenzulegen, wird von der US-Regierung bis zur Linkspartei als Alternative zu einem konsequenten militärischen Eingreifen propagiert. Die Zivilbevölkerung wird damit jedoch einem Belagerungszustand ausgesetzt, dessen Folgen niemand abschätzen kann. Möglicherweise reicht die Agrarproduktion im Kalifat, zu dem einige landwirtschaftlich ertragreiche Gebiete gehören, zur Versorgung der Städte; zuverlässige Angaben gibt es hierzu jedoch nicht. Die Jihadisten sind zwar daran interessiert, die soziale Unzufriedenheit möglichst gering zu halten, werden aber ihrem Militärapparat immer die Priorität einräumen.
Besiegen lässt sich der IS durch einen Wirtschaftskrieg nicht. Die somalischen Jihadisten verfügen über wesentlich geringere Einnahmen, haben mehrere Hungersnöte überstanden und sind noch immer eine Gefahr für die Region. Auch auf Anschläge im Westen muss der IS nicht verzichten, wenn die Einnahmen sinken. Sie setzen verbündete Gruppen in den Zielländern voraus; Waffen, Munition, Sprengstoff und weiteres notwendiges Material kosten aber selbst für größere Terroroperationen nicht mehr als 10 000 bis 20 000 Dollar.
Allerdings wird es zu einer wirklichen Blockade wohl ohnehin nicht kommen. Das verhindert nicht nur die Korruption, die etwa den Handel mit der kurdischen Autonomieregion im Nordirak möglich macht, obwohl deren Truppen, die Peshmerga, einige vom IS eroberte Gebiete befreit haben. Offiziell hat der Kalif keine Verbündeten in der Welt, doch weiterhin spielt der IS eine Rolle in den Plänen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Auch als Verkörperung des Bösen ist der IS von Nutzen, vor allem für das syrische und das iranische Regime. Beide gelten nun als das kleinere Übel und somit als zumindest potentielle Verbündete. Auch der russischen Machtpolitik kommt der Kalif gelegen, da er eine propagandistische Rechtfertigung für die Unterstützung des syrischen Regimes liefert.

Es ist daher kein Wunder, dass die militärisch schwächsten Kriegsparteien, die syrisch-kurdischen Milizen und die Peshmerga, die größten Erfolge im Kampf gegen den IS erzielen. Der Kalif ist für wichtige Akteure ein zu nützlicher Feind, als dass man ihn besiegen wollte. Die westlichen Staaten akzeptieren die machtpolitischen Manöver der Kontrahenten und stehen der jüngsten Eskalation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die auch in Syrien und im Irak ausgetragen werden wird, hilf- und planlos gegenüber. Sollten die kurdischen Offensiven zu erfolgreich sein, wird man sie wohl sogar im Interesse der Regionalmächte bremsen.
Der IS wird sich daher zwar nicht im Sinne eines nation building stabilisieren – dies ist auch gar nicht das Ziel der Jihadisten –, aber er wird vorläufig weiterexistieren. Die Warlordisierung, bislang eine Angelegenheit marginalisierter und für den Weltmarkt unbedeutender Gebiete, erfasst damit zum ersten Mal eine strategisch und ökonomisch wichtige Region. Für die Apokalypse wird es nicht reichen, aber ein Ende des Terrors ist nicht in Sicht.