Die deutsche Willkommenskultur ist naiv

Neue Judensternstunden

Die Debatte über die Willkommenskultur der Deutschen verändert die politischen Freund-Feind-Bestimmungen. Von Wiedergutmachung ist die Rede  – und Juden werden vorgeführt, weil sie nicht die gewünschten Antworten liefern.

Ein Deutscher, der glaubt, sich von der Geschichte freikaufen zu können, hat sie nicht begriffen. Wer sie wiederum nicht begriffen hat, dem ist sie auch kein Seelenstachel, folglich muss er sich nicht von ihr freikaufen«, formulierte Bernd Ulrich am 10. Dezember 2015 in der Zeit eine dialektische Volte. Er war entsetzt über Alain Finkielkrauts Aussage: »Als die ersten Flüchtlingswellen ankamen, hielten die Deutschen den Moment für gekommen, ihren historischen Makel zu bereinigen. Sie konnten sich endlich freikaufen. Es war eine große Erlösung … Dazu aber gehörte eine große moralische Trunkenheit.« Es ist erwähnenswert, dass Ulrich dem französischen Publizisten in der gleichen Ausgabe der Zeit widersprechen durfte, ohne dass Finkielkraut seinerseits replizieren konnte. Es war mehr als Unhöflichkeit, diesen französischen Juden polnischer Herkunft, dessen Vater in Auschwitz war, derart aus dem nationalen Diskurs auszuschließen; es war notwendig, die Frage auszustreichen, die Deutschland von einem Juden gestellt wurde. Dass auf kritische Einwände zur Willkommenskultur mit Rassismusvorwürfen geantwortet wird, ist das eine; dass Empörung aufkommt, wenn von Juden auf die deutschen Verbrechen als ein mehr oder weniger bewusstes Motiv hingewiesen wird, das andere, das Unerträglichere. Beinahe unbemerkt hat sich in die deutsche Flüchtlingsdebatte das seit der Wiedervereinigung bekannte Muster eingeschlichen, sich von Juden nicht mehr befragen zu lassen, obschon man ihre unliebsamen Antworten zur nationalen Selbstverständigung benötigt.
Das geht so: Deutsche Medien befragen Juden und beschweren sich hinterher, dass Deutschland nicht ausreichend für seine Konsequenzen aus der Vergangenheit gelobt wird. »Viele der Flüchtlinge fliehen vor dem Terror des ›Islamischen Staates‹ und wollen in Frieden und Freiheit leben, gleichzeitig aber entstammen sie Kulturen, in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil ist. Denken Sie nicht nur an die Juden, denken Sie an die Gleichberechtigung von Frau und Mann oder den Umgang mit Homosexuellen«, sagte Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Ende November der Welt. Diese Aussage traf auf Empörung – bis zur Silvesternacht in Köln.
Juden vorzuführen, in ihrer Besorgnis und nie ganz verschwindenden Angst vor Deutschland, egal in welchem Aggregatzustand, daran weidet sich die deutsche Öffentlichkeit seit einem Vierteljahrhundert – seit sie es darf, der Wiedervereinigung sei Dank. Derzeit sind Finkielkraut, Schuster und der vergangene Woche im Alter von 96 Jahren verstorbene Lord George Weidenfeld die Juden, die vorgeführt werden, weil sie deutsche Gewissheiten in Frage stellen.
Als es vor mehr als 20 Jahren im wiedervereinigten Deutschland darum ging, das Verhältnis der Nation zu den Juden zu klären und Zeit, Stern und Spiegel sich in eigenen Beilagen mit dem erstaunlichen Phänomen lebendiger Juden, die nicht verzeihen wollen, beschäftigten, stellte Eike Geisel fest: »Auf die Lichterketten (gegen die rassistischen Pogrome zu Beginn der neunziger Jahre, Anm. d. Autors) folgten die Judensternstunden. Wollten die moralischen Glühwürmchen unter der Anleitung von Redaktionen und Werbeagenturen aus dem Ausland zeigen, dass es gute Deutsche gibt, so kam es nun darauf an, auch sich selbst zu zeigen, dass sie gute Juden haben. Die missbrauchen weder das Asylrecht (das damals gerade eingeschränkt worden war, Anm. d. Autors), noch liegen sie in Vorgärten, sondern sie spielen Klavier und haben hübsche Feiertage. Und wie der Stern seinen Lesern im Dezember erklärte, handelt es sich nicht nur um zivilisierte Menschen, die keinesfalls im Supermarkt klauen, sondern meist um illustre Persönlichkeiten: ›Zum Beispiel Einstein … ‹«
Der »Triumph des guten Willens« war keinesfalls eine reine Umarmung, sondern ging, wie Geisel zeigte, mit der Thematisierung jüdischer Täterschaft einher. Die seinerzeit als endgültige und letztmalige Tabubrüche daherkommenden Schlagzeilen – Stella Goldschlag, die jüdische Gestapo-Greiferin, der Hitlerjunge Salomon, die polnische Stasi-Vergangenheit Marcel Reich-Ranickis – dienten in den neunziger Jahren der Eingemeindung der deutschen Juden. Die Menora auf dem Wohnzimmertisch passte gut zum damaligen Bestseller »Auge um Auge« von John Sack, das die Versuche jüdischer Überlebender, sich nach 1945 zu rächen, thematisierte. Dass die Juden auch Dreck am Stecken haben, war für ihre erfolgreiche Integration in das wiedervereinigte Deutschland ebenso entscheidend wie die Pflege jüdischer Friedhöfe und die Restauration von als Lagerhäuser genutzten ehemaligen Synagogen durch nichtjüdische Deutsche. Damals erfand der Spiegel das Wort »judenkritisch« für Antisemitismus und leitete eine Entwicklung ein, in der jedes Ressentiment zur Kritik geadelt wurde: Heutzutage sind Rassisten »Asylkritiker« und Antisemiten »Israel-Kritiker«.
Über die massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen in Köln in der Silvesternacht wird scheinbar offen und kontrovers diskutiert, die Linien der politischen Freund-Feind-Bestimmungen verschieben sich ein weiteres Mal. Die einen machen darauf aufmerksam, dass die Flüchtlinge keineswegs bessere Menschen seien, sondern von Krieg und patriarchaler Kultur verroht, und denunzieren die naive Willkommenskultur, die nun wieder ins rassistische Ressentiment kippt. Die anderen sehen im Islam das Hauptproblem, hinterfragen, ob nicht die Willkommenskultur als solche der Auflösung gesellschaftlicher und staatlicher Garantien zugunsten von Kultur und Racket Vorschub leistet, und greifen folglich den Antirassismus an. Zwischen beiden Positionen gibt es nicht unerhebliche Schnittmengen, dennoch wird die Debatte, sowohl in den kleinen Zirkeln als auch im Feuilleton, mit einer Erbitterung geführt, die vor allem mit dem Phantasma zu tun hat, noch irgendwie Einfluss auf die Entwicklung nehmen zu können.
Die Hilflosigkeit vor einer immer bedrohlicheren Kulisse aus Krieg, Terror und Flucht ermöglichte eine gewisse Vorbehaltlosigkeit im Denken, die Trauer darüber einschließen müsste, dass eine Phase gesellschaftlicher Stabilität zu Ende geht. Das Gegenteil davon ist die Freude darüber, dass es in Europa nun endlich auch ungemütlich werde und die bequemen Metropolenbewohner mit der furchtbaren globalen Wirklichkeit konfrontiert würden – eine müde Reprise der antiimperialistischen Verelendungstheorie. Das sind die wirklich unüberbrückbaren Gegensätze, denn was scheinbar auf die Mehrheit gemünzt ist, die ihren Wohlstand und ihre Bequemlichkeit bedroht sieht, richtet sich tatsächlich gegen jene Minderheiten, denen es nicht um Gemütlichkeit, sondern um Sicherheit zu tun ist.
Der Historiker Heinrich-August Winkler wies in den vergangenen Monaten in verschiedenen Artikeln darauf hin, dass es einen Unterschied gibt zwischen diesem vage linken Nationalstolz der Deutschen, der auf einer fundamentalen Selbstüberschätzung beruht – wer Auschwitz aufarbeiten kann, dem sind keine Grenzen gesetzt –, und den »westlichen Werten«, die Westdeutschlands Aufstieg erst möglich gemacht haben. Winkler bemerkte vergangenen September in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »1988 schrieb Oskar Lafontaine, damals noch sozialdemokratischer Ministerpräsident des Saarlandes, in seinem Buch ›Die Gesellschaft der Zukunft‹, gerade ›weil wir Deutschen mit einem pervertierten Nationalismus schrecklichste Erfahrungen‹ gemacht hätten, seien wir jetzt ›geradezu prädestiniert, die treibende Rolle in dem Prozess der supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen‹. Von der Perversion zur Prädestination: Die dialektische Volte Lafontaines mutet wie eine weltliche Variante der frühchristlichen Lehre von der ›felix culpa‹ an, der Lehre von der seligen, weil heilsnotwendigen Schuld.« Genau diese Funktion des Schuldbekenntnisses hatte Eike Geisel einst beschrieben. Zu begreifen, dass das heutige Deutschland auf die Nation eigentlich nichts gibt, sein Nationalstolz eigentlich ein antinationaler ist, scheint gerade den Linken schwer zu fallen, die angesichts solcher Äußerungen gleich eine Nähe zu rassistischen Mob insinuieren.
Jakob Augstein nimmt nach den Ereignissen von Köln denn auch die Auschwitz-Keule zur Hand, um jede Frage nach dem Umgang mit den Flüchtlingen abzuwehren: »Ebenso groß wie das Verbrechen muss aber die Verantwortung sein, die daraus erwächst. Und es lässt sich ja dieser Verantwortung gar nicht besser gerecht werden als in der tätigen Hilfe für Menschen in Not. Die deutsche Vergangenheit wäre also ein gutes Argument dafür, Flüchtlingen zu helfen«, dekretierte er vergangene Woche im Spiegel. Augstein führt Winkler an, dem er unterstellt, lediglich zu postulieren, nicht zu argumentieren, wie es auch Pegida und andere Rassisten täten, um ihn in die Nähe der Faschisten zu stellen.
Winkler ist Augstein jedoch nur Vorwand, sich einen Juden vorzuknöpfen: Weidenfeld. Der Wiener Jude, vertrieben 1938, firmiert bei Augstein so: »Schon vor der Nacht von Köln hat der Verleger George Weidenfeld über die Flücht­lings­-Freude der deutschen Öffentlichkeit gespottet, ›als könnte man damit die Schuld der Großeltern wieder tilgen. Hitler ausmerzen, indem die Deutschen endlich die Guten sind. Das ist Ignoranz‹«. Der Autor dieser Zeilen weiß, dass alle wissen, der Jude ist gemeint. Weidenfeld war immerhin am Aufbau des Staates Israel beteiligt und auch sonst sehr umtriebig, hat zum Beispiel Wladimir Nabokovs »Lolita« verlegt. Dass Augstein, den noch die fernste Assoziation zwanghaft auf Israel zu sprechen kommen lässt, ausgerechnet hier vergisst zu erwähnen, wer dieser Weidenfeld eigentlich ist, ist kein Zufall. Weidenfeld spottet im Interview mit der Welt keineswegs. Er macht darauf aufmerksam, dass die Deutschen die Christen im Irak und in Syrien nicht schützen, was ihm ein großes Anliegen war. Er sagte über seine Emigration, in London fühlte er sich »nicht nur in Sicherheit, sondern auch erhoben zu einer besseren Zivilisation«, und stellt damit klar, dass nur eine Minderheit der heutigen Flüchtlinge sich derart »erhoben« fühlt. Er wendet sich gegen den deutschen Pazifismus, dessen einer Ausdruck für ihn die Willkommenskultur ist: »Die Nazis haben die Vernichtung ihrer Feinde, zuvörderst der Juden, als industrielle Maßnahme organisiert. Es war ein widerliches, kaltes Morden ohne große Emotionen. Die Bolschewisten haben bei den organisierten Hungerkatastrophen, mörderischen Umsiedlungen und Exekutionen ganz anonym Millionen umgebracht. Grauenvoll genug. Aber nun kommen diese Jihadisten als fröhliche Sadisten und sagen der freiheitlichen Lebensform ebenfalls den Kampf an. Was tun sie? Sie köpfen und kastrieren ihre Opfer, sie schänden Frauen nach Belieben, kreuzigen die Menschen, verstümmeln sie systematisch – und das alles mit obszöner sexueller Freude.« Könnte es diese Aussage sein, die Augstein und andere deutsche Linke so kränkt: dass es Schlimmeres gäbe als das, was »unsere Mütter, unsere Väter« angerichtet haben?