Russische LKW-Fahrer streiken aus Protest gegen eine neue Maut

Wildcatstreik der Lasterfahrer

Im vergangenen November haben sich russische LKW-Fahrer zusammengeschlossen, um gegen ihre Arbeitsbedingungen und eine neue Maut zu protestieren. Während einer Protestfahrt nach Moskau wurden sie gestoppt. Seitdem harren sie auf einem Parkplatz vor den Toren der Stadt aus. Nun wollen sie eine alternative Fernfahrergewerkschaft gründen.

»Die Wochenenden mag ich am liebsten!« Andrej hat sichtlich gute Laune. Über die Rampe gelangt er aus der eisigen Kälte in die geräumige provisorische Küche im Laderaum eines LKW, in der an diesem Samstag Ende Januar reges Treiben herrscht. Das Stimmengewirr wird immer wieder von kurzem Lachen unterbrochen. Die Regale im hinteren Teil sind gut gefüllt mit Eingemachtem, Brot und Fertigsuppen. An diesem Tag hat jemand sogar zwei Torten mitgebracht. Auf den Tellern liegen allerdings nur noch Reste davon. Dafür ist es drinnen gemütlich warm und hell. Gelegentlich gibt der Generator für kurze Zeit seinen Geist auf, aber für diesen Fall sind Kerzen vorhanden. Überhaupt haben sich die Bewohner und Unterstützer des Protestcamps russischer Fernfahrer im Moskauer Vorort Chimki gegen alle Widrigkeiten gewappnet. Wer es hier auf dem zugigen Parkplatz vor Ikea und dem riesigen Einkaufszentrum Mega wochenlang bei Schnee und Frost aushält, hat einen guten Grund dafür und gibt nicht klein bei. Im Gegenteil, das ist erst der Anfang.

»Platon« hat die Trucker hierhergeführt und ­gegen ihn gehen sie systematisch vor. Hinter dem Namen des antiken Philosophen versteckt sich ein Mitte November eingeführtes Schwerverkehrsabgabesystem für LKW mit einem Gesamtgewicht ab zwölf Tonnen. Jeder Fernfahrer muss sich anmelden und einen speziellen Fahrzeugrechner erwerben, mit dessen Hilfe jede Route per Verbindung zum russischen Satellitensystem Glonass genau nachverfolgt werden kann. Die Konzession dafür hat ein von Igor Rotenberg kontrolliertes Unternehmen von der Regierung bekommen – ohne transparente Ausschreibung, schließlich gehört er zur Familie. Der erfolgreiche Geschäftsmann ist der Sohn von Arkadi Rotenberg, einem langjährigen engen Vertrauten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. »Wir wollen unsere Frauen und Kinder ernähren, keine Oligarchen«, ist draußen auf einem Schild zu ­lesen.
In Chimki lehnen alle »Platon« ab. Hier haben sich in erster Linie Kleinspediteure eingefunden, deren Fuhrpark aus einem, zwei oder drei Trucks besteht. »Versuch mal spaßeshalber, dich anzumelden, und wähle eine beliebige Strecke aus«, rät Wladimir, der wohl Älteste der Fernfahrer im Protestcamp. »Du wirst darauf stoßen, dass die berechnete Entfernung höher ausfällt als die günstigste Streckenwahl.« Aber selbst wenn die Berechnung korrekt ausfallen würde, würden sich die Fernfahrer zur Wehr setzen. Nach Abzug aller bestehenden Steuern, Abgaben und Kreditrückzahlungen bleibt ihnen ohnehin nur noch ein bescheidenes Auskommen. Derzeit gilt noch ein Minimaltarif pro Kilometer, der zwar ab März angehoben werden soll. Ab dann werden sich allerdings die Mautgebühren im Jahr auf über 4 000 Euro belaufen. Zu viel für Kleinunternehmer, zumal sich kaum jemand der Illusion hingibt, dass die schätzungsweise 600 Millionen Euro an Einnahmen tatsächlich komplett in den Straßenbau fließen. Der Zustand vieler Fernstraßen lässt die Trucker aufstöhnen. Unaufgefordert zeigen sie auf ihren Tabletts und Smartphones Bilder von Straßen mit tiefen Schlaglöchern. Manchmal ist darauf auch gar kein Asphalt auszumachen.
Am 11. November setzten sie zum Protest an. Mit Verkehrsbehinderungen durch Fahrten im Schneckentempo sorgten sie landesweit für Schlagzeilen, eine Sternfahrt Richtung Moskau sollte Ende November den Höhepunkt bilden, um dem Kreml vor Augen zu führen, dass die Loyalität der Trucker eine Grenze hat. Vor allem aus Sankt Petersburg und vom Süden her aus Dagestan bewegten sich große Kolonnen auf die Hauptstadt zu. Aber in Chimki wurden die vom Nordosten eintreffenden Trucks von der Polizei gestoppt und auf besagten Parkplatz verwiesen. Seither sitzen sie hier fest, werden aber immerhin geduldet: 13 LKW und eine wechselnde Anzahl an Fernfahrern aus ganz Russland. Sie haben hier ein Koordinationszentrum eingerichtet, das praktisch rund um die Uhr in Betrieb ist. Bis zu 20 Männer halten hier dauerhaft die Stellung, aber es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Nicht alle können es sich leisten, während ihrer Streikaktion gar nicht zu arbeiten, und so mancher geht deshalb gelegentlich auf Fahrt. Rund um Moskau stehen auf privaten kostenpflichtigen Stellplätzen bis zu 1 000 Trucks Streikender, die Standorte bleiben jedoch für alle Fälle geheim. In Chimki dürfen Großtransporter zwar den Platz verlassen, aber der Polizeiposten an der Zufahrt lässt in die andere Richtung nur Kleinwagen passieren. Kurz nach Neujahr schafften zwei LKW den Durchbruch, weil der Wachposten eingeschlafen war.
Rund um das Camp liegene mächtige Schneemassen. Solidarische Helfer haben eine Ausfahrt freigeschaufelt und bei der Gelegenheit einen Truck in den Schnee gemeißelt. Den haben die kommunalen Räumdienste hier nicht aus Ver­sehen abgelegt. Gerüchte besagten, der speziell zur Abschreckung angekarrte Schnee sei verschmutzt oder womöglich sogar radioaktiv. Eine Frau legt auf dem »Schneeamerikaner« ein Strahlenmessgerät ab. »Wir führen eine Umweltschutzkontrolle durch«, erklärt sie auf Nach­frage. Das Ergebnis fällt negativ aus, der Schnee ist nur Schnee. 100 Meter weiter herrscht reger Einkaufstrubel, aber das durch die Schneemauern von der Außenwelt abgetrennte Protestcamp ist aus der Entfernung trotz vieler Plakate kaum als solches auszumachen. Hier kommt keiner der das Mega-Shoppingerlebnis suchenden Moskauer zufällig vorbei, ebenso wenig staatliche Fernsehteams. Doch wer die Fernfahrer mit Geld, Lebensmitteln, Diesel oder einfach nur moralisch unterstützen will, findet den richtigen Weg, genauer gesagt den »Weg des Lebens«. Auf einem Schneehügel thront ein Schild mit der Aufschrift: ­»Doroga schisni«. So lautete auch die Bezeichnung für die menschenrettende Versorgungs­straße aus dem von der Wehrmacht blockierten Leningrad.

Draußen weht ein eisiger Wind, auch wenn die schlimmste Januarkälte bereits vorüber ist. Zeit für einen wärmenden Tee, denn, nebenbei gesagt: Hier herrscht strenges Alkoholverbot. In der Küche ereifert sich eine junge dunkelhaarige Frau im Pelzmantel und mit modischer schwarzer Brille auf der Nase, sie gibt Ratschläge für eine effektivere Öffentlichkeitsarbeit. Die um sie herum sitzenden Männer unterbrechen sie ab und an, hören ansonsten aber aufmerksam zu. Ebenso wie Tasja, die als Pressesprecherin für das Protestcamp fungiert, auf diesem Gebiet allerdings noch kaum Erfahrung hat. Irgendwann reißt dem ansonsten immer freundlichen und eher zurückhaltenden Anatoli der Geduldsfaden. Er hat eine Familie mit drei Kindern in Sankt Petersburg zu versorgen und sitzt seit Ende November in Chimki. »Du hast vielleicht gut reden!« Man merkt ihm die Verärgerung an. »Dir ist es doch völlig egal, was bei unserem Protest am Ende rauskommt«, rutscht es aus ihm heraus. Die Frau im Pelzmantel dementiert, beendet das Gespräch kurz darauf, will aber wiederkommen.
»Wem gehört das Aufnahmegerät auf dem Tisch?« will Andrej wissen. Er ist einer der Initiatoren des Protests, von den Truckern gewählter Anführer, betreibt mit seinem Sohn eine Klein­spedition und versucht, über alles den Überblick zu behalten. An manchen Tagen kommt eine ganze Schar verschiedener Leute hier her, die filmen, fotografieren und unzählige Fragen stellen. An sich freuen sich die Fernfahrer über das lebhafte Interesse an ihrem Anliegen, aber gelegentlich strengt das richtig an. Privatsphäre gibt es selbst im eigenen Truck nur begrenzt, denn die Trucks werden zwangsläufig als Nachtlager genutzt für all jene, die in Moskau keine alternative Unterkunftsmöglichkeit finden. »Es ist meins«, sagt ein junger Mann, der gleichzeitig das ganze Treiben in der Küche mit seiner Videokamera festhält und vorher die ganze Zeit keinen einzigen Ton von sich gegeben hat. »Für wen machst du die Aufnahme?« fragt Andrej, erhält aber nur eine unverständliche Antwort. Er sei von einer Kunstschule, wisse aber noch nicht, was er mit dem Material anfangen soll.
Am anderen Ende des Tischs entspinnt sich derweil zwischen drei Unterstützern eine Debatte über die Frage, ob es sinnvoll und angemessen sei, sich als Demonstrant gesetzeswidrigen Forderungen der Polizei zu unterwerfen. Als Beispiel nennen sie eine von der Polizei aufgelöste Wählerversammlung mit zwei Duma-Abgeordneten der kommunistischen Partei KPRF vergangenen Dezember im Moskauer Stadtzentrum, bei der die Abschaffung von »Platon« zur Sprache kam. Dabei bedarf es dafür nach dem Gesetz nicht einmal einer Genehmigung. Zwei erfahrene Demonstranten stehen in der immer lauter und emotionaler geführten Diskussionen einem in solchen Dingen recht naiven Neuling gegenüber. Die Fragen nach zulässigen und erfolgversprechenden Protestformen sind immer wieder Gegenstand längerer Gespräche, zumal für die Trucker Auftritte mit Redebeiträgen auf Kundgebungen noch ungewohnt sind. Anatoli setzt ­gerade Überlegungen über das weitere Vorgehen an, da schleicht sich schon wieder der junge Mann mit seiner Videokamera heran. »Du schon wieder mit deinem Aufnahmegerät.« Anatoli verspürt offenbar keine Lust mehr zu diskutieren und erhebt sich Richtung Tür. »Wer weiß, vielleicht bist du ja ein Spion.«
Ganz abwegig ist die Vermutung nicht. Andrej berichtete bei einem Treffen im Dezember, dass gerade in den ersten Wochen nach Beginn der Aktionen alle möglichen merkwürdigen Leute in Chimki aufgetaucht seien, bis hin zu Mitarbeitern der Staatssicherheit. Deren Aufgabe sei es weniger, die Trucker unter Kontrolle zu halten – darum kümmert sich die Polizei an Ort und Stelle, die sich genauestens auf dem Laufenden hält, wie viele Personen sich im Protestcamp aufhalten –, als dafür zu sorgen, dass der Protest ins Leere läuft. Hoher Handlungsdruck bei fehlenden gefestigten Basisstrukturen im Protestlager und politische Unerfahrenheit bieten hervorragende Möglichkeiten der Einflussnahme von außen. Die Sternfahrt vom November scheiterte nicht zuletzt wegen der ungenügenden Koordination der Trucker untereinander. Kontaktpersonen aus unterschiedlichen Regionen kannten sich untereinander kaum, stimmten ihr Verhalten nicht ausreichend ab oder verfolgten unterschiedliche Strategien.
»Anfangs haben wir geglaubt, dass unser Protest im Kreml umgehend auf Resonanz stößt«, sagt Sergej, der sich selbst inzwischen kaum mehr vorstellen kann, einmal so gedacht zu haben. In den vergangenen Wochen hat sich seine Einstellung gegenüber der russischen Führung grund­legend verändert. Persönlich getroffen hat ihn jedoch etwas anderes. »Im Fernsehen haben sie uns als ungebildete und rohe Typen dargestellt.« Das wirkt regelrecht beleidigend und nicht nur Sergej ist darum bemüht, dieses weitverbreitete Stereotyp zu widerlegen. Auf großes Interesse stieß eine Vorlesung der Moskauer Geschichtslehrerin Tamara Ejdelman über Gandhi und Martin Luther King, wenngleich, wie einer der Trucker hinterher im kleinen Kreis anmerkte, das doch alles sehr aus der Luft gegriffen sei. An russische Verhältnisse angepasste Beispiele wären ihm lieber gewesen.

Wenn es um die Frage der Selbstorganisation geht, eignen sich Vertreter unabhängiger Gewerkschaften tatsächlich wesentlich besser als Gesprächspartner. Mit einigen von ihnen stehen die protestierenden Trucker inzwischen in engem Kontakt. Andrej ist der Ansicht – und damit steht er nicht allein –, dass eigentlich das gesamte Wirtschaftssystem in Russland komplett verändert werden müsse. Die schleichende Monopolisierung des Transportwesens, intransparente Preispolitik und korrupte Straßenpolizisten, deren Vorgehen moderner Wegelagerei gleichkommt, bilden denkbar ungünstige Rahmenbedingungen. Auch ihren Protest verstehen die Trucker als ökonomisch und nicht politisch motiviert. An Wahlen seien sie nicht interessiert, Parteien, einschließlich der KPRF, begegnen sie mit großer Skepsis und sie wollen sich von niemandem vereinnahmen lassen. Der bekannte nationalistische Oppositionelle Aleksej Nawalnyj, der sich als Korruptionsbekämpfer einen Namen gemacht hat, kündigte zwar seinen Besuch in Chimki an, erhielt von den Truckern aber eine Abfuhr.
Ihre Prioritäten liegen beim Aufbau einer durchschlagskräftigen überregionalen Interessenvertretung, einer Art alternativen Trucker­gewerkschaft. In fast 60 Regionen gibt es Basisgruppen, die ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Beitritt bekunden. Andrej reiste bereits zu Verhandlungen in etliche Orte, darunter auch nach Dagestan. Dort stieß »Platon« auf besonders heftigen Widerstand. Ein weiterer Fahrer ­namens Sergej stammt selbst aus Dagestan. Erst am Vortag kam er in Chimki an, die Polizei ließ ihn mit seinem Kleintransporter durch die Absperrung. »In Dagestan weiß die ganze Bevöl­kerung über uns Bescheid«, sagt er überzeugt. Die Sympathien für die Fernfahrer seien dort stark ausgeprägt, gekämpft werden müsse aber in Moskau. Schließlich werden dort die Entscheidungen getroffen.
Bislang reagierte die Regierung mit minimalen Zugeständnissen wie der Milderung der Strafen bei Boykott gegen »Platon« und der Abschaffung der KfZ-Steuer für Schwertransporter. Das übliche Arsenal an Diffamierungsmethoden lässt sich auf die für wenige Rubel hart arbeitenden Fernfahrer, deren Loyalität zum Staat bis vergangenen Herbst nicht in Frage stand, kaum anwenden. Wer glaubt schon, dass streikende russische Trucker aus den USA gesteuert werden? Zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nur eine verschwindende Minderheit. Die Trucker rüsten sich nun für den Frühling. Nach dem Wochenende setzt das Tauwetter ein und der Schnee wird endlich weggeräumt. Für den 6. Februar sind Kund­gebungen geplant und ab dem 20. März soll es sogar einen landesweiten Streik geben. So richtig los geht es dann, wenn die Trucker ihre alternative Gewerkschaft gegründet haben. Bis auf weiteres bleiben sie in Chimki. »Genug lamentiert!« Gena aus der Nachbarschaft holt seine Gitarre hervor. »Jetzt gibt es ein Konzert für euch.« Schließlich ist Wochenende.