Sozialistischer Widerstand im Ersten Weltkrieg

Abstimmen oder streiken

Vor und während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) gab es verschiedene Formen sozialistischen Widerstandes gegen den Krieg. Doch die sozialdemokratisch dominierten Zentralgewerkschaften, die die Kriegsmobilisierung unterstützten, setzten sich durch.

Die Debatte über die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs argumentiert in einem Rahmen von Nationalstaatlichkeit. Dabei besteht der Primat der Außenpolitik und ihrer diplomatiegeschichtlichen Elemente. Welcher Staat, welche Nation trägt die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg? Oder sind die imperialen Großmächte in das Geschehen »hineingeschlittert«? Die Menschen erscheinen dabei als willfährige Objekte höherer Gewalten, wie so oft, wenn beispielsweise von »Schicksalsgemeinschaft« oder Ähnlichem die Rede ist. Die Aussage ist deutlich: Der Mensch kann nichts verändern und er soll erst gar nicht auf diesen Gedanken kommen. Antimilitaristischer Aufklärung müsste es darum gehen, diesem herrschenden Diskurs nicht mehr aufzusitzen und darüber hinaus den Menschen als kollektiv handlungsfähiges Subjekt zu begreifen, ihn mit seiner Verantwortung und mit seinen Fähigkeiten ins Zentrum der Geschichtsbetrachtung zu stellen.
Denn in Teilen der proletarischen Bevölkerung gab es vor 100 Jahren einen starken Widerwillen und das internationale Proletariat als gesellschaftliche Klasse besaß die Möglichkeit, durch Generalstreiks den Krieg zu verhindern. Mehr noch: Durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung hätte Kapitalismus und Militarismus ein Ende gemacht werden können. Doch waren die revolutionären Kräfte in Deutschland zu schwach. Denn die zentralgewerkschaftlichen und politischen Organisationen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft kontrollierten bereits seit Jahrzehnten die Willensbildung der Mehrheit der Arbeiterschaft in einem kompromisslerischen und nationalbewussten Sinne, mit fatalen Folgen.
Der führende Zentralgewerkschaftsfunktionär Paul Umbreit betonte in einer Festschrift aus dem Jahre 1915: »In dieser schweren Zeit, da Deutschland, rings von Feinden bedroht, auf das einmütige Zusammenhalten aller Glieder des Volkes angewiesen war, hat die Reichsregierung die Gewerkschaften als wertvolle Träger der Volksorganisation kennen- und schätzengelernt. (…) Diese Hilfe war aber um so höher zu bewerten, als es sich um große Massenorganisationen handelte, die ihre Mitglieder vorzüglich geschult hatten und die über einen reichen Fonds organisatorischer Erfahrung und über einen Stab begabter Kräfte verfügten, die dem Reiche in der Zeit der inneren wirtschaftlichen Neuorganisation unschätzbare Dienste leisten konnten.«
Im Sommer 1914 schlossen hohe Vertreter der Sozialdemokratie nach Verhandlungen mit Staatsvertretern einen »Burgfrieden«, der für die Dauer des Kriegs die Einstellung aller gewerkschaftlichen Kampfaktivitäten festlegte. Die Zentralgewerkschaften – Vorläufer der heutigen DGB-Gewerkschaften – hielten ihre Basis ruhig beziehungsweise entfachten sogar Kriegsbegeisterung. Sie finanzierten über Anleihen und Kriegsspenden direkt den Krieg, ihre Funktionäre denunzierten Kriegsgegner an Polizei und Militärbehörden, und ihre nicht verbotenen Zeitungen unterstützten propagandistisch die Kriegspolitik. Sie initiierten beispielsweise »Arbeitsgemeinschaften« mit der Industrie. Sie unterstützten das System der »Abkehrscheine«. Das bedeutete: Wer wegen aufrührerischer Tätigkeiten im Betrieb entlassen wurde, konnte vom Militär an die Front eingezogen werden, Verdächtigen wurde aus der Chefetage mit dem »Schützengraben« gedroht. Die »Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands«, ein Vorläufer des heutigen DGB, befürwortete das 1916 in Kraft getretene »Hilfsdienstgesetz«. Demnach konnten Männer im Alter zwischen 17 und 60 Jahren gezwungen werden, in kriegswichtigen Betrieben zu arbeiten.
Auch nach mehreren »Hungerwintern« verbreiteten die Zentralgewerkschaften Durchhalteparolen und standen fest hinter der Reichsregierung, rühmten sich stolz eines national-sozialen Klassenkonsenses, des »Kriegssozialismus«. Diese Beispiele sollen reichen, die Einigkeit der Sozial­demo­kra­tie mit der Kriegszielpolitik des Deutschen Reiches zu veranschaulichen. Der bekannte Ausspruch des Reichstagsabgeordneten Hugo Haase (SPD) vom 4. August 1914 – »Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich!« – verharmlost deren Kriegsmotivation. Die Sozialdemokratie ist nicht in eine »Katastrophe hineingeschlittert«, sie war aktiver Part millionenfachen Sterbens und wirkte aktiv im Sinne der Reichspolitik.
Bis März 1915 durchbrachen mit Karl Liebknecht, der dies bereits in einer Abstimmung im Dezember 1914 tat, und Otto Rühle lediglich zwei Abgeordnete der SPD im Reichstag die Fraktionsdisziplin und stimmten gegen die Bewilligung finanzieller Mittel für die Kriegführung. Zwar tobte der Wahnsinn bereits seit den ersten Augusttagen 1914, doch versuchte eine kleine Gruppe einflussreicher und revolutionärer Sozialdemokraten auf parlamentarischem Wege durch Mehrheitsgewinnung innerhalb der SPD-Fraktion ein Ende der Kriegspolitik herbeizuführen. Sie gründeten Anfang August 1914 die »Gruppe Internationale«, aus der später die »Spartakusgruppe« hervorging, die Vorläuferin der 1919 gegründeten KPD. Das Scheitern des Widerstandes auf parlamentarischer Ebene schmälert die Leistungen und den Mut dieser Abgeordneten keinesfalls, Liebknecht und Rühle engagierten sich auch nach ihrem Ausschluss aus der SPD-Fraktion vehement und unter großen persönlichen Opfern als Antimilitaristen. Liebknecht wurde 1916 wegen seiner Agitation gegen den Krieg inhaftiert, und blieb bis zu seiner Befreiung wenige Wochen vor Kriegsende im Gefängnis.
Wirkungsvoller als das Taktieren innerhalb der Partei waren die vor allem in Berlin einsetzenden Streiks, zunächst gegen die Teuerungen, aber 1916 mit stärkerer politischer Note gegen die Kriegspolitik im Allgemeinen. An den ersten Streiks der Jahre 1914/15 waren Syndikalisten der »Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften« beteiligt. Dabei handelte es sich um klassenkämpferische Gewerkschafter der ersten Stunde, die 1908 aus der SPD ausgeschlossen worden waren, da sie nicht den zentralistischen und hierarchisch strukturieren Gewerkschaften beitreten wollten. Stattdessen organisierten sie sich in lokalen Fachvereinigungen mit sozialrevolutionärem Anspruch.
Getragen wurden diese ersten Streiks jedoch vor allem von klandestin operierenden Vertrauensleuten innerhalb des zentralgewerkschaftlichen »Deutschen Metallarbeiterverbandes«, die sich erst in den weiteren Kriegsjahren als »Revolutionäre Obleute« organisierten. Ihre Macht entfalteten sie gegen die Gewerkschaftsvorstände vor allem in den Rüstungsbetrieben. Bedeutende Berliner Großbetriebe wie die AEG und Schwartzkopff bildeten die Hochburgen revolutionärer Betriebsarbeit von »Revolutionären Obleuten« und Syndikalisten. Beim »Liebknechtstreik« 1916 gegen dessen Verhaftung, im März und im April 1917 sowie im »Munitionsarbeiterstreik« vom Januar 1918 traten reichsweit jeweils Hunderttausende Arbeiter in den Streik. Im Zuge der »Novemberrevolution« vom 9. November 1918 dankte der deutsche Kaiser Wilhelm II. ab und der Krieg wurde durch einen Waffenstillstand beendet.
Vor allem in diesen letzten Kriegsjahren und wegen der ungebrochenen Kaisertreue von SPD und Zentralgewerkschaften politisierten sich große Teile einer von diesen »Vertretern« enttäuschten Arbeiterschaft. Diese Massen bildeten den Kern der revolutionären Kämpfe und Sozialisierungsversuche seit 1918/19. Es kam 1919 zur Gründung von Räterepubliken in Bremen und Bayern und zu bedeutenden regionalen Erhebungen wie dem Ruhrkampf 1920, dem »Spartakusaufstand« in Berlin und dem »Mitteldeutschen Aufstand« 1921. Dennoch blieben die meisten organisierten Arbeiter reichsweit den autoritären sozialdemokratischen Vereinigungen treu.
Ein Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte sprach sich im Dezember 1918 mit 344 zu 89 Stimmen gegen die Konstituierung einer Räterepublik aus, stattdessen mit 400 zu 50 Stimmen für eine verfassungsgebende Nationalversammlung, die in den Folgejahren unter dem politischen Dach der »Republik von Weimar« nicht nur die kapitalistischen Verhältnisse sicherte, sondern auch viele Elemente des kaiserlichen Obrigkeits- und Miliärstaats konservierte. Die Arbeiter sollten abstimmen und weiterhin auf das Parlament setzen. Dies und die Dominanz und Aggressivität sozialdemokratischer Gewerkschaften stand dem Aufleben schlagkräftiger klassenkämpferischer Arbeiterorganisationen entgegen. Nur diese wären in der Lage gewesen, durch ein föderalistisches System der Arbeiterselbstverwaltung und direkt praktizierter Rätedemokratie das Aufkommen der faschistischen Diktatur im Keim zu ersticken.
Der Autor ist Mitarbeiter im Institut für Syndikalismusforschung (Syfo). https://syndikalismusforschung.wordpress