Die Lage von syrischen Flüchtlingen in der Türkei

Gäste ohne Rechte

Fast drei Millionen syrische Flüchtlinge leben in der Türkei. Sie werden nur geduldet, auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren sie mit Binnen­flüchtlingen aus den Kurdengebieten.

Der freundliche junge Mann ist auf dem Basar bei Kollegen und Kunden beliebt. Ali F. füllt geschickt Pistazien ab, reicht sie der blonden Kundin und fragt sie in hervorragendem Englisch nach weiteren Wünschen. Sein Chef ist sehr zufrieden. Der Verkäufer war in seinem früheren Leben Student der Philologie an der Universität Damaskus. Neben Arabisch spricht er Persisch, Englisch, Französisch und mittlerweile auch ein passables Türkisch.
Ali beteiligte sich als Student 2011 an den Demonstrationen gegen die Diktatur Bashar al-Assads. Sein Vater entging als oppositioneller Verleger nur knapp einer Festnahme und floh vor zwei Jahren mit seiner Familie in die Türkei. Erst lebten sie im südostanatolischen Gaziantep, vor einem Jahr zogen sie nach Istanbul. Ali ist überaus dankbar für seinen Job und dafür, dass er für seine Arbeit auf dem Basar marktüblich bezahlt wird. Angefangen hat er als Lastenträger für zehn Euro am Tag. Er musste zu seiner Familie ziehen, obwohl er in Damaskus bereits mit Freunden zusammengelebt hatte. »Ich hatte die Alternative, entweder mit 20 Männern in einer Zweizimmerwohnung zu leben oder mit mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern eine ebenso große Wohnung zu teilen.«
Syrische Arbeitskräfte schuften meist im Niedriglohnsektor oder versuchen sich als Kleinunternehmer, als Tellerwäscher, Kuriere oder Packer in Fabriken, oft verkaufen sie auch Taschentücher und Wasser auf der Straße. Dort konkurrieren sie allerdings mit den vielen Binnenmigranten vor allem aus den Kurdengebieten. Neben den fast drei Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei mussten auch Zehntausende Kurden aus Orten wie Cizre, Silopi und Nusaybin in sicherere Regionen des Landes übersiedeln.
Krise und Eskalation im Irak und in Syrien haben sich in die Grenzregionen ausgebreitet. Geschickt nutzt die Türkei die internationale Angst vor dem islamistischen Terror, um ungestört Jagd auf die Minderheiten im eigenen Land zu machen. Derzeit feuert die türkische Artillerie von Kilis und Cizre an der syrischen Grenze auf die kurdischen Kämpfer in Nordsyrien statt auf den »Islamischen Staat« (IS). In Cizre herrschte zuvor wochenlang Ausgangssperre, türkische Sicherheitskräfte und militante Helfershelfer aus der islamisch-konservativen Jugendbewegung, die auch in den Kurdengebieten starke Fraktionen gegen die PKK bilden, feuerten in den Städten auf die Zivilbevölkerung und provozierten einen Bürgerkrieg.
Offiziell wird von Kämpfen zwischen PKK und türkischem Militär gesprochen, eine international überwiegend akzeptierte Sichtweise. Tatsächlich beteiligen sich in den Grenzregionen ganz unterschiedliche Akteure an einem unheilvollen Konflikt, der immer wieder Zivilisten das Leben kostet. Die Bilder von erschossenen Kindern, schwangeren Frauen und alten Leuten dringen kaum an die Öffentlichkeit, weder in der Türkei noch im Ausland.
»Es ist, als ob die ganze Welt wegschaut«, wirft Alis kurdischer Kollege Ramazan in das Gespräch ein. Seine Familie floh bereits in den neunziger Jahren aus Batman nach Istanbul. Damals eskalierte die Gewalt, weil das türkische Militär neben der offiziellen Armee die islamistische Hizbollah und Todesschwadronen mit Waffen ausstattete. Zehntausende Tote und Vermisste kostete dieser Krieg. Ramazans Kurdisch ist bis heute schlechter als sein Türkisch, weil in seiner Kindheit Kurdisch in der Öffentlichkeit verboten war. Es gab keine Bücher, Kassetten kurdischer Musiker wurden nur unter der Ladentheke gehandelt.
Ramazan zieht den syrischen Kollegen gern auf. Er fragt grinsend, ob er seinem Gast einen Tee anbieten dürfe, das sei doch die berühmte orientalische Gastfreundschaft. Ali wirft gutmütig eine Nuss nach dem Kurden und lacht lakonisch. Nur wenige syrische Flüchtlinge haben bislang einen Aufenthaltsstatus in der Türkei. Sie bekommen lediglich eine Registrierungskarte, die sie als Gäste kennzeichnet. Die Türkei hat zwar die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet, absurderweise werden aber nur Asylanträge aus Europa akzeptiert – eine auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehende Regelung, als von den Nazis Verfolgte auch in die Türkei flohen.
Ideologisch sieht die islamisch-konservative Regierungspartei AKP Nachkommen der ehemaligen Untertanen im Osmanischen Reich als »kleine Brüder«, die gut behandelt werden, solange sie nicht unangenehm auffallen. Doch etwa 60 000 aus Aleppo Geflohene campieren am Grenzübergang Bab Salama, weil sie nicht einreisen dürfen. Wer passieren darf, kann nur mit einem Duldungsstatus in der Türkei leben und genießt keine Bürgerrechte. Nach friedlichen Demonstrationen im vergangenen Sommer für eine Öffnung der Grenzen wurden etwa 200 syrische Flüchtlinge in Istanbul und Edirne festgenommen und für Wochen in Flüchtlingszentren gesperrt. Alis Freund Mohammed F. war unter ihnen. Drei Monate lang wusste er nicht, was ihm eigentlich vorgeworfen wurde, und fragte sich, warum er bis in das ostanatolische Erzurum verlegt wurde.
Die Zentren für Flüchtlinge werden im Osten des Landes wie Straflager ­betrieben. Mohammed und seine Leidensgenossen wurden wochenlang unter Druck gesetzt, eine Einwilligung zu unterschreiben, in ihr Herkunftsland abgeschoben zu werden, da sie als Gäste nicht mehr erwünscht seien. Das unter internationalem Druck gerade notdürftig reformierte Migrationsgesetz untersagt es der Polizei, Flüchtlinge gegen ihren Willen in Krisengebiete abzuschieben. Mohammed, ein Palästinenser aus Damaskus, widersetzte sich dem Druck. Andere unterschrieben und durften an einem Ort ihrer Wahl die Grenze nach Syrien überqueren, konnten sich also aussuchen, ob sie lieber zu den Kurden, dem IS, der Freien Syrischen Armee oder in das von Assad kontrollierte Gebiet reisen wollten.
Mohammed musste schließlich unterschreiben, dass er das Land verlassen werde, und durfte gehen. Mittlerweile wurde er in Frankreich als Asylbewerber akzeptiert und wartet in Paris auf den Ausgang seines Verfahrens. Ali möchte nicht nach Europa. Von vielen Freunden, die in den vergangenen Monaten über das Mittelmeer und den Balkan bis Westeuropa gekommen sind, hört er nur wenig Gutes. Prügel in Ungarn, obligatorische Internierung in Deutschland, den Niederlanden und Belgien. In der Türkei leben nur zehn Prozent der Flüchtlinge in Camps, sie können sich bislang aussuchen, ob sie dort versorgt werden wollen oder sich lieber auf eigene Faust durchschlagen.
Ali hofft auf eine Aufenthaltsgenehmigung in der Türkei. Das türkische Familienministerium veröffentlichte vor zwei Wochen die Ergebnisse eine Umfrage unter syrischen Flüchtlingen, derzufolge 85 Prozent unter den momentanen Bedingungen nicht zurückkehren, sondern in der Türkei bleiben wollen. Familienministerin Sema Ramazanoğlu sagte am 29. Januar, sie setze daher auf eine Politik der Integration statt der Segregation. Sie plädierte vor allem für eine Änderung des Asylrechts.
Die Türkei hat mittlerweile eine eigene Migrationsbehörde eingerichtet. Einige prominente syrische und aus Syrien stammende palästinensische Dissidenten erhielten mittlerweile die türkische Staatsbürgerschaft. Als Kurde sieht Ramazan die derzeitige Entwicklung kritisch. Er glaubt, die türkische Regierung wolle sich der unbequemen kurdischen Opposition entledigen und dafür ein paar dankbare syrische Neubürger gewinnen. »Araber hält Erdoğan für verlässlicher als Kurden«, witzelt er.
Damit liegt er gar nicht so falsch. Syrer wie Ali interessiert die innenpolitische Lage in der Türkei bislang wenig, weil sie im Vergleich zum Assad-Regime immer noch liberal erscheint. »Ihr könnt auch übermorgen schon in einer Sicherheitszone an der syrischen Grenze landen«, meint Ramazan. »Das ist dann der von der Türkei kontrollierte Gaza-Streifen.« Er ist fest davon überzeugt, dass die Milliardenzahlung aus Europa, falls sie denn kommen sollte, nicht für eine Integration der Syrer, sondern für Recep Tayyip Erdoğans Kriegspolitik verwendet werden wird. Wie die meisten Kurden ist er misstrauisch, denn zum eigenen Machterhalt brach die AKP-Regierung im Sommer den von allen mit Hoffnung betrachteten Friedensprozess abrupt ab und erklärte selbst die prokurdischen Politiker zu Förderern separatistischer Terroristen.
Ali lacht nicht mehr, er weiß nur zu gut, dass Ramazans Bedenken berechtigt sind. Eine Alternative hat er nicht und so widmet er sich nachdenklich wieder dem Einpacken der Pistazien.