Soziale Proteste in São Paulo

Lernen auf der Straße

Im São Paulo gibt es erneut Demonstrationen gegen Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. In den vergangenen Monaten wurden in dem brasilianischen Bundesstaat zudem Hunderte Schulen aus Protest gegen eine Schulreform besetzt.

In Brasilien sollen in weniger als sechs Monaten die Olympischen Sommerspiele beginnen. Sie werden wohl von den gleichen Kontroversen und Konflikten begleitet werden wie die Großveranstaltungen Confederations Cup und Fuß­ball-Weltmeisterschaft in den Jahren 2013 und 2014, als das Land die größten sozialen Proteste seit Jahrzehnten erlebte. Wie bereits 2013 gab es seit Anfang dieses Jahres Demonstrationen gegen die Erhöhung der Tarife des öffentlichen Nahverkehrs in São Paulo, die am 30. Dezember angekündigt worden war. 2013 wurde der einfache Fahrpreis auf drei Reais (0,69 Euro) angehoben, 2015 auf 3,50 Reais, nun auf 3,80 Reais. Auch in anderen Städten verteuerten sich in den vergangenen Jahren die Tarife, in Belo Horizonte allein drei Mal in einem Jahr.
In São Paulo fanden im Januar sieben große Demonstrationen mit jeweils bis zu 20 000 Teilnehmern statt. Die Bewegung für den kostenlosen Fahrschein (MPL) wollte mit zwei großen Demonstrationen pro Woche Druck auf die Regierung ausüben. Die dritte Demonstration Mitte Januar traf auf ein enormes Polizeiaufgebot. Die Polizei feuerte Gummigeschosse und Tränengas auf Demonstrierende, Dutzende Menschen wurden verletzt, einige schwer, und mehrere Menschen blieben tagelang inhaftiert. Die Demonstrationen danach verliefen hingegen wieder weitgehend friedlich, auch soziale Bewegungen wie die Obdachlosenbewegung MTST mobilisierten Tausende Menschen. Zur vorläufig letzten Demonstration am 28. Januar kamen jedoch nur noch etwa 300 Personen. Der Bürgermeister São Paulos, Fernando Haddad, und der Gouverneur des Bundesstaats, Geraldo Alckmin von der rechtsliberalen Partei PSDB, waren der Einladung des MPL zum Dialog nicht gefolgt. Offizielle Begründung für die Tariferhöhung ist die Reduzierung des städtischen Haushaltsdefizits und die Subventionierung kostenloser Schülertickets. »Die Regierung muss verstehen, dass jede Tariferhöhung das Leben vieler Familien beeinträchtig«, sagte Erica de Oliveira, eine Vertreterin des MPL. Sie kritisierte, dass Mobilität derzeit »als Ware behandelt« werde. Die nächste große Demonstration ist erst für den 25. Februar geplant.
Neben den Demonstrationen gegen die Tariferhöhungen hatten im Bundesstaat São Paulo in den vergangenen Monaten auch Proteste gegen eine geplante Schulreform für Aufmerksamkeit gesorgt. Ende September vergangenen Jahres hatte die Regierung von Gouverneur Alckmin angekündigt, dass einige Schulen wegen schwacher Bildungsleistung reorganisiert werden müssten. Die Schulreform soll Effektivität des Bildungssystems dadurch verbessern, dass die Jahrgänge stärker voneinander getrennt werden. Jede Schule soll dann ausschließlich für die ersten fünf Jahre Grundschule, einige Jahre Mittelschule oder die letzten drei Schuljahre zuständig sein. Die Änderung würde 1 400 Schulen betreffen, 300 000 Schülerinnen und Schüler müssten transferiert und 93 Schulen im ganzen Bundesstaat geschlossen werden.
Dagegen demonstrierten Zehntausende Menschen am 6. und 25. Oktober und ab dem 10. November wurden rund 200 Schulen besetzt. Vier Monate lang organisierten und koordinierten die Schülerinnen und Schüler sich vor allem über das Internet und soziale Medien, etwa über die Facebook-Seite »Não fechem minha escola« (»Schließt meine Schule nicht«). Teams wurden gebildet, um nicht nur die Infrastruktur an den Schulen wie Reinigung, Verpflegung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, sondern auch, um Anwohner und Menschen, die ansonsten nichts mit dem Schulbetrieb zu tun haben, zu Diskussionen und Solidaritätsaktionen einzuladen. Es gab öffentliche Debatten, Straßenproteste und eine selbstorganisierte mediale Dokumentation sowohl der eigenen Aktionen als auch des harten Vorgehens der Polizei, um der negativen Berichtserstattung des Medienkonzerns Globo entgegenzuwirken.
Am 4. Dezember sagte Alckmin auf einer Pressekonferenz: »Ich habe die Nachricht der Schüler und ihrer Verwandten erhalten und respektiere sie.« Die Reform wurde bis mindestens 2017 auf Eis gelegt und der Staatssekretär für Bildung in São Paulo, Herman Voorwald, trat zurück. Der Sieg wurde in besetzten Schulen unter Beteiligung bekannter Künstler als »Wendepunkt« groß gefeiert. Die Schüler riefen jedoch dazu auf, die Besetzungen aufrechzuerhalten, bis Zugeständnisse garantiert werden, wie die Aufhebung der Schulreform, die Freilassung inhaftierter Demonstranten und Straffreiheit für wegen Vergehen während der Besetzungen Angeklagte.
Am 28. Januar ersetzte José Nalini (PSDB) Voorwald und entließ dessen Stabschef Fernando Padula. Auf einer im November vom unabhängigen Medienkollektiv Jornalistas Livres verbreiteten Aufnahme hatte Padula einen »Informationskrieg« gefordert, um die Schulbesetzungen zu beenden und die Bewegung zu »demoralisieren«. Das Medienkollektiv veröffentlichte am 5. Februar zudem Zahlen zur »stillen Reorganisation« des Schulsystems im Bundesstaat São Paulo, die trotz der Aussetzung der Reform verdeckt voranschreite. Der Lehrergewerkschaft Apeoesp zufolge wurden in diesem Jahr bereits 594 Klassen im öffentlichen Schulsystem abgeschafft. Dabei beruft sich die Gewerkschaft auf Rückmeldungen von 33 ihrer Ortsgruppen. Schätzungen des Apeoesp deuten darauf hin, dass in diesem Jahr bis zu 1 674 Klassen abgeschafft werden könnten. Die Vorsitzende der Gewerkschaft, Maria Izabel Azevedo Noronha, kündigte an, dass sie gegen diese Maßnahme vor Gericht gehen werde und warnte vor überfüllten Klassen. Das Bildungssekretariat dementierte, dass es zu Überbelegungen kommen werde.
Die Schülerinnen und Schüler kritisieren die Zusammenarbeit der brasilianischen Parteien, da Bürgermeister Haddad von der linken Arbeiterpartei (PT) Alckmins Reformen unterstützt. Auch der Gouverneur von Goiás, Marconi Perillo (PSDB), wird von Bildungsminister Aloízio Mercadante (PT) bei seinen Plänen unterstützt, ein Viertel der öffentlichen Schulen zu privatisieren. Seit Dezember vergangenen Jahres wurden aus Protest dagegen und aus Solidarität mit der Bewegung gegen die Schulreform daher auch in den Bundesstaaten Goiás und Espírito Santo mehr als 20 Schulen besetzt. In São Paulo sind die meisten Besetzungen mittlerweile aufgehoben, um sich wieder den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhungen widmen zu können. Beide Kämpfe gehören zusammen, richten sie sich doch gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen und die Kommerzialisierung sozialer Infrastruktur. Derweil steigen im Zuge der Bautätigkeit für die sportlichen Großveranstaltungen vielerorts auch sonstige Lebenshaltungskosten, etwa Mietpreise, weiter. Falls die verschiedenen sozialen Bewegungen wieder Schwung bekommen, könnten sich in diesem Jahr noch mehr Menschen an den Protesten beteiligen als 2013 und 2014.