Die Flüchtlings- und Syrien-Politik der EU

Zuschauen und abschieben

Die vermeintliche Realpolitik der EU trägt zur Eskalation im Syrien-Konflikt bei. Um sich vor den Folgen zu schützen, wird nun die Flüchtlingsabwehr militarisiert.

Im Nato-Vertrag sucht man vergeblich nach einer Grundlage für einen Einsatz zur Flüchtlingsabwehr. Auch die im 2010 beschlossenen Strategiekonzept »Active engagement, modern defence« genannten Kernfunktionen »kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit« müssen arg weit interpretiert werden, um eine solche Intervention zur Aufgabe der Nato erklären zu können. Doch die Vereinbarung, einen Marineverband der Nato unter deutscher Führung in der Ägäis einzusetzen, um türkische und griechische Behörden durch die Aufklärung über Flüchtlingsbewegungen zu unterstützen, soll »überraschend einfach erzielt worden« sein, berichtet die Süddeutsche Zeitung.
Die Rassisten werden begeistert sein. Was könnte ein besserer Beweis für die Bedrohung der Sicherheit durch Flüchtlinge sein als der Einsatz des mächtigsten Militärbündnisses der Welt gegen diese »Invasion«? Weniger klar ist, welchem Zweck der Einsatz tatsächlich dient. »Ziel muss es sein, das perfide Geschäft der Schmuggler und der illegalen Migration zu erschweren – wenn nicht unmöglich zu machen«, sagte die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. In der Ägäis aufgegriffene Flüchtlinge sollen umgehend in die Türkei zurückgebracht werden. Das wäre ein rechtlich dubioses Verfahren, da Kriegsschiffe als nationales Hoheitgebiet gelten und somit an Bord ein Asylantrag gestellt werden könnte. Fraglich ist auch, ob die Nato seetüchtige Boote in internationalen Gewässern aufbringen darf. Einen Präzedenzfall für die Abschiebung ohne Einzelfallprüfung zu schaffen, ist jedoch ein einleuchtendes Motiv.
Der Aufklärung bedürfen jedenfalls am wenigsten die türkischen Behörden, die über die Netzwerke der sogenannten Schlepper gut informiert sind. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat recht offen gesagt, dass er die Ausreise von Flüchtlingen entsprechend den Zahlungen und sonstigen Zugeständnissen der EU zu dosieren gedenkt. Möglicherweise soll die Nato nicht Erdoğan über die Schlepper, sondern die EU über Erdoğans Vertragstreue aufklären. Vielleicht soll dem russischen Präsidenten Wladimir Putin signalisiert werden, dass er die EU nicht durch die verstärkte Vertreibung von Syrerinnen und Syrern destabilisieren kann. Oder der Einsatz ist nur eine weitere hilflose Improvisation, die Handlungsfähigkeit vortäuschen soll.
Erstellt man eine Liste der Fluchtursachen, nimmt derzeit Putin unangefochten den ersten Platz ein; nach Angaben des UNHCR kamen 45 Prozent der in diesem Jahr in Griechenland eingetroffenen Flüchtlinge aus Syrien. Doch auch Erdoğan hat mit seiner Strategie, eine sunnitische Front unter Beteiligung jihadistischer Gruppen gegen das syrische Regime aufzubauen, einen erheblichen Beitrag zur Eskalation geleistet. Der Versuch, sie und andere Kriegstreiber zu einer einvernehmlichen Lösung zu bewegen, hätte bestenfalls eine Koalitionsregierung der Schlächter hervorbringen können. Doch warum sollte Putin sich auf Kompromisse einlassen, wenn er ungehindert Fakten schaffen kann?
Mit der russischen Offensive verschwinden die letzten Hoffnungen auf eine politische Lösung. Die syrisch-kurdische YPG profitiert von Putins Bombardements, offenbar gibt es eine zumindest informelle Zusammenarbeit mit Russland und Bashar al-Assad gegen die arabisch-syrischen Aufständischen. Der Bruch dürfte dauerhaft sein. Bei aller gebotenen Kritik an der Strategie der YPG muss deren Entscheidung auch als Folge der westlichen Politik gewertet werden. Die US-Regierung hat die syrischen Kurden nur halbherzig unterstützt, die EU gar nicht. So nimmt jede Kriegspartei nun in Besitz, was sie erobern kann.
Man muss nicht lange raten, wen Putins Bomben und Assads Granaten treffen werden, wenn es ihnen gelingt, die arabisch-syrische Opposition zu beseitigen. Unterdessen kann Erdoğan den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Osten der Türkei intensivieren und die YPG auf syrischem Territorium beschießen lassen, ohne Folgen befürchten zu müssen. Die vermeintliche Realpolitik der EU trägt zur Eskalation bei. Als einzige Lösung gilt die Abschottung vor den Folgen, und sei es mit militärischen Mitteln.