In Indien nehmen die Anfeindungen gegen religiöse Minderheiten zu

Safran färbt das ganze Land

An indischen Universitäten wird gegen die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP protestiert. Nicht nur Studenten werfen ihr Diskriminierung von religiösen Minderheiten und Säkularen vor.

Am 13. Dezember 2001, drangen fünf Männer in das Parlamentsgebäude in Indiens Hauptstadt Delhi ein. Sie erschossen einen Gärtner und acht Sicherheitsbeamte, bevor sie selbst getötet wurden. Indien machte Pakistan für den Anschlag mitverantwortlich, die Lage in Kaschmir eskalierte, es sah nach einem neuen Krieg aus. Zwei Tage später verhaftete die Polizei den Kashmiri Mohammad Afzal Guru. Er wurde als Mittäter zum Tode verurteilt und gut elf Jahre später heimlich im Diha-Gefängnis von Delhi gehängt.
Eine Episode aus der Vergangenheit, sollte man meinen. Doch nach einer kleinen Veranstaltung in Gedenken an Gurus Hinrichtung wurde am 9. Februar der linke Studentenführer Kanhaiya Kumar festgenommen. Wegen »Aufwiegelung« drohen ihm viele Jahre Haft, die größten Studentenproteste Indiens seit Jahrzehnten waren die Folge. Überall im Land gehen Studenten gegen die Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party, Indische Volkspartei) auf die Straße, seit Wochen sind »antinationale« Umtriebe an den Universitäten eines der bestimmenden Themen von Nachrichtensendungen und Fernsehdebatten. Intellektuelle aus der ganzen Welt haben sich mit den Protestierenden solidarisiert.
Jedes Jahr am 9. Februar, Gurus Todestag, erinnern linke Studenten auf dem Campus der Jawarlahal Nehru University (JNU) in Delhi an dessen Hinrichtung. Guru habe keinen fairen Prozess bekommen, sagen sie. Dabei geht es weniger um den toten Separatisten als um das Gebaren der Regierung. Die kleine Universität gilt als Ort der Elite und renommierteste Hochschule des Landes, viele führende indische Politiker haben hier studiert. Gleichzeitig ist sie das intellektuelle Zentrum der radikalen Linken und die Studenten stehen traditionell mit den Herrschenden auf Kriegsfuß – insbesondere mit der seit 2014 regierenden hindu-nationalistischen BJP, der mit über 100 Millionen Mitgliedern größten Partei der Welt.
Es hatte angefangen wie in den Jahren zuvor. Die maoistische Democratic Students Union hatte zur »Kulturveranstaltung« gegen die »Ermordung« Gurus durch die indische Justiz eingeladen – auf dem Badmintonfeld des Campus. Wie jedes Jahr war die Aktion der nationalistischen Studentenorganisation ABVP ein Dorn im Auge. Die Universitätsleitung solle die Veranstaltung verbieten, forderten sie – sie sei »schädlich für die Atmosphäre auf dem Campus«. Am Abend hatten sich linke Studenten und Kashmiris auf dem Badmintonfeld versammelt. Sicherheitsleute kassierten Mikrophone ein, rechte Studenten pöbelten, die Linken und die Kashmiris pöbelten zurück. Eine Petitesse, eine Auseinandersetzung, wie sie immer wieder an vielen Universitäten der Welt stattfindet – doch in Indien haben sich seit der Regierungsübernahme der BJP die Verhältnisse verändert. Die Polizei erschien und nahm den Vorsitzenden des JNU-Studentenverbandes, Kanhaiya Kumar, fest. Kumar ist Mitglied in der All India Student Union, der Studentenorganisation der Kommunistischen Partei.
In den Monaten zuvor hatten die linken Studentenorganisationen immer stärker den Präsidenten Narendra Modi kritisiert. Für sie ist die BJP ein übles Amalgam aus Neoliberalismus, Autoritarismus und Restauration einer religiösen Gesellschaftsordnung. »Saffronisation« nennen die Linken das BJP-Projekt. Safran ist die Farbe des Hinduismus und der BJP.
In den vergangenen Monaten hatten nicht nur Studenten, sondern auch Bollywood-Stars, Oppositionspolitiker, Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller wachsende Anfeindungen gegen religiöse Minderheiten und säkulare Kräfte in Indien beklagt. Autoren hatten von einer nationalen Akademie verliehene Literaturpreise zurückgegeben. Sie alle beklagten, dass die BJP nichts gegen religiös motivierte Gewalttaten extremistischer Hindus unternehme. So wurde etwa der religionskritische Intellektuelle M. M. Kalburgi ermordet und ein Muslim wurde gelyncht, weil er eine Kuh geschlachtet haben soll.
Zudem, so die Kritiker, beende die BJP die Versuche der Vergangenheit, die Kastendiskriminierung im Land zu bekämpfen. Durchschlagenden Erfolg hatten diese freilich bislang nicht. Nach einer neuen Untersuchung der NGO Action Aid dürfen die unterhalb der Kastenhierarchie stehenden Dalits noch heute in 48 Prozent aller untersuchten Dörfer nicht vom Friseur bedient werden und Wasserhähne nicht berühren, in 36 Prozent dürfen sie keine Geschäfte betreten und in 33 Prozent müssen sie in Restaurants in getrennten Bereichen sitzen.
Seit Jahrzehnten gibt es Bemühungen, solche Diskriminierung mit Gesetzen zu bekämpfen. Dazu zählen auch Quotenregelungen, etwa bei der Vergabe von Studienplätzen an Dalits. Viele höherkastige und religiöse Inder lehnen diese Praxis ab. Dalits wiederum werfen Politikern und vor allem der Verwaltung vor, die affirmative action nach Kräften zu hintertreiben. Die Debatte war im Januar eskaliert, nachdem sich an der Universität Hyderabad Rohit Vemula selbst getötet hatte. Der politisch aktive 26jährige Dalit hatte die letzten Tage seines Lebens in einem Zelt am Rande des Campus hausen müssen. Der Doktorand durfte Wohnheime und Verwaltungsgebäude nicht betreten und an Universitätswahlen nicht teilnehmen. Die Universität hatte ihm Disziplinarvergehen vorgeworfen, für Vemula standen die Maßnahmen in einer endlosen Reihe von Schikanen gegen ihn als Kastenlosen. Sein in den sozialen Medien verbreiteter Abschiedsbrief ist ein erschütterndes Dokument für die Gegenwart der Kastendiskriminierung selbst in urbanen akademischen Milieus.
Vemulas Tod löste heftige Proteste in ganz Indien aus. Viele Studierende, auch an der JNU, machten die BJP direkt für den Tod Vemulas verantwortlich. Bei Demonstrationen wurden Hunderte festgenommen. Vemula ist das berühmteste Opfer der »Saffronisation«, sein Foto hängt seither überall an den Universitäten.
Die BJP wollte mit der Festnahme des Studentenführers Kumar an der JNU ein Exempel statuieren. Die Position der linken Studentenorganisationen zu Kaschmir ist, dass die Regierung den Bewohnern der Provinz endlich das Ende der vierziger Jahre versprochene Referendum über ihren Status gestatten solle. Was Kumar genau gesagt haben soll, um sich den Vorwurf der »Aufwiegelung« zuzuziehen, ist unklar. Videos von dem Abend stehen im Netz, Kumar sagt dort nichts. Er sitzt in Untersuchungshaft, zwei Wochen später wurden zwei weitere Studierende der JNU wegen der Gedenkfeier für den kaschmirischen Attentäter festgenommen, weitere werden gesucht. An der JNU halten Studenten und Professoren seither jeden Abend Open-Air-Vorlesungen über Nationalismus ab. Den Vorwurf des »Antinationalismus« weisen sie zurück. Sie seien Nationalisten, aber nicht so wie die Rechten das verstehen, sagen viele.
Viele Rechte fordern nun die Schließung der Universität, da sie ein Hort »antinationaler« und »pakistanischer« Umtriebe sei. Der Abend auf dem Badmintonfeld gilt als Beweis, dass die Studenten Sympathien für kaschmirische Separatisten und pakistanische Terroristen hegen. Polizei und selbst Soldaten wurden vor dem Campus postiert. Die Regierung hat alle Universitäten des Landes angewiesen, als Zeichen gegen »Antinationalismus« die indische Fahne 60 Meter hoch »stolz« wehen zu lassen.