17.03.2016
Der Film »Der Wert des Menschen«

Alles umsonst

Das Sozialdrama »Der Wert des Menschen« stellt die Mechanismen des Arbeitsmarktes in aller Brutalität dar.

Ein süßer Schwebezustand war das damals. Der Zivildienst war gerade abgeleistet, das Studium würde erst in einigen Monaten beginnen. Im Bekanntenkreis hatte sich herumgesprochen, wie sich diese Zeit finanziell überbrücken ließe. Einfach hin zum Amt, mit offenen Karten spielen und der Geldhahn öffnete sich. Eine todsichere Nummer. Von der meine Sachbearbeiterin, Frau Andersch, Mitte 50, schlecht belüftetes Büro in Hamburg-Mitte, nichts wusste. »Sie sind also bereit, jedes Jobangebot zu akzeptieren?« fragte sie. Ich nickte, vielleicht gehörte das alles zum üblichen Procedere und schon gleich müsste ich meine Bankdaten angeben und sie würde mich in Ruhe lassen. »Steht Ihnen ein Auto zur Verfügung?« »Nein«, sagte ich. »Ich habe hier etwas für sie: Autobahngrill Stillhorn.« »Was? Auf der Raststätte? Wie soll ich da hinkommen?« »Das werden Sie schon schaffen. Hier ist die Adresse, melden Sie sich bitte umgehend dort.« Bratwürste wenden im Autobahngrill Stillhorn – eine typische Aufgabe für einen 19jährigen Vegetarier ohne Auto. Sofort setzte ich ein Schreiben auf, um alles ungeschehen zu machen und nicht weiter vom Amt behelligt zu werden. Existentielle Sorgen lagen keine vor, eigentlich ging es damals um nichts. Weshalb ich das Arbeitsamt-Intermezzo als launige Anekdote abspeicherte. Dass ich diesen Übergangsstadien immer wieder begegnen würde, ihre Aneinanderreihung von Vertretern meiner Generation als Erwerbsbiographie bezeichnet werden sollte, war mir damals noch nicht klar. Ich sollte noch diversen Frau Anderschs begegnen.
So wie auch Thierry Taugourdeau in »Der Wert des Menschen«. Nur dass es bei Thierry nicht darum geht, Zeit zwischen den Jobs zu überbrücken. Es geht um alles. Thierry ist 51 Jahre alt, gelernter Maschinist und nun schon eine Weile arbeitslos – neun Monate bleiben ihm noch, bis die monatlichen Zahlungen auf 500 Euro gekürzt werden. Er hat eine Frau und einen behinderten Sohn im heiratsfähigen Alter, dessen Ausbildung bezahlt werden muss. Doch davon erfährt der Zuschauer erst später. Zunächst sitzt Thierry seinem Sachbearbeiter gegenüber. Und liest ihm die Leviten, weil ihm noch nicht aller Stolz genommen wurde. Wieso zur Hölle habe man ihm eine Umschulung zum Kranführer nahegelegt? Vier Monate hat er gelernt, Bewerbungen geschrieben und ist immer aus demselben Grund abgewiesen worden: Wer nie auf einer Baustelle gearbeitet hat, wird nicht auf den Kran gelassen. So einfach ist das.
»Sie müssen das den Leuten doch sagen, dass sie nach so einer Umschulung nichts kriegen.« So springe man nicht mit Menschen um, meint Thierry. Ja, Entschuldigung, es sei ein Fehler gewesen. Trotzdem: Jetzt müsse Thierry sich wieder ganz auf die Jobsuche konzentrieren. »Sie können ja auch nichts dafür«, sagt Thierry. Wie nur kann dieser Mann angesichts der ungewissen Zukunft, auf die er zusteuert, Verständnis aufbringen?
Er schluckt den Zorn herunter, weil er weiß, dass ihm keine andere Möglichkeit bleibt. Dafür hat er schon zu viel erlebt. Und zu viel Kraft gelassen, um sich noch aufzulehnen. Ob er sich vorstellen könne, eine niedrigere Position als in seiner alten Firma zu übernehmen? »Ja«, sagt er dem Computerbildschirm. Das Bewerbungsgespräch, für das Thierry sich etwas herausgeputzt hat, wird über Skype geführt. Selbst wenn die Bezahlung schlechter sei? Ja. Und wie stehe es mit seiner Flexibilität? Keine Frage, auf flexible Arbeitszeiten könne er sich ohne Probleme einstellen. »Ich will ihnen nicht zu nahe treten, aber ihr Lebenslauf ist schlecht geschrieben«, sagt die Stimme aus dem Computer dann. »Ich will ehrlich sein, sie haben keine große Chance.« Am Ende wird Thierry sich für die Zumutungen des Gesprächs bedanken. Er hat gelernt, sich zusammenzureißen.
Die Contenance bewahren – so wie der Bankangestellten gegenüber, die diesem Mann vorschlägt, seine Wohnung zu verkaufen, um zumindest zeitweise etwas finanziellen Spielraum zur Verfügung zu haben. »Aber dann wäre alles umsonst gewesen«, sagt Thierry. »Es ist das einzige, was uns gehört.« Kein Pathos, Thierry klingt nicht rührselig oder sentimental, da ist nur ein leichtes Beben in seiner Stimme, das sich dieses Mal nicht unterdrücken lässt. Anzergehen. Selbst das Bewerbungstraining, bei dem der Lehrer oder Coach, oder wie auch immer er sich nennen mag, hanebüchene Floskeln über nonverbale Kommunikation absondert. Ausschließlich arme Teufel sind anwesend, alle zu diesem Kurs verdonnert. Keiner hat hier etwas zu verlieren. Und niemand hat was dagegen, den Nebenmann noch tiefer unten zu sehen. Ein junger Mann, halb so alt wie Thierry, urteilt über ihn: Etwas zusammengesunken habe Thierry bei dem simulierten Bewerbungstraining dagesessen; habe sich nicht genügend geöffnet und noch dazu Liebenswürdigkeit vermissen lassen. Ja, die Kursteilnehmer sind sich einig, dieser Mann im mittleren Alter habe so ziemlich alles falsch gemacht. Einstellen würden sie so einen nicht. Mit ihm privat etwas zu tun haben noch weniger.
»Der Wert des Menschen« heißt im Original »La loi du marché«, was übersetzt »Das Gesetz des Marktes« bedeutet. Ein Titel, der treffender auf die Brutalität der Arbeitswelt hinweist, die der Film in sozialrealis­tischer Tradition knochentrocken ausstellt. Regisseur Stéphane Brizé verzichtet weitgehend auf künstle­rische Gesten, die den naturalistischen Charakter des Films unterlaufen könnten. Die Kamera hält emo­tionslos drauf, es gibt keinerlei musikalische Untermalung, die Zeit vergeht in kleinsten Schritten, das Erzähltempo verlangsamt sich und macht die qualvollen Momente noch unangenehmer. Vincent Lindon, der Mel Gibson Frankreichs, mit dem Brizé nach »Mademoiselle Chambon« (2009) und »Der letzte Frühling« (2012) schon zum dritten Mal zusammenarbeitet, erhielt für seine Rolle als Thierry den Darstellerpreis in Cannes sowie den César Award. Denn kaum einer kann so verzweifelt, so kraftlos, müde und zugleich beherrscht dreinblicken wie er. Als Thierry nach 20 Monaten Arbeitslosigkeit endlich als Kauf­hausdetektiv in einem großen Supermarkt anfangen darf, wendet sich das Blatt keineswegs zum Guten. Denn in Notsituationen sehen sich die Menschen zu besonderem Verhalten genötigt. Ob er jeden armen Schlucker von Ladendieb zur Rechenschaft ziehen soll? Können die Entscheidungen eines Menschen ­allein überhaupt einen Unterschied machen? Am Ende ist ein Menschenleben nur einige Rabattmarken wert.
»Der Wert des Menschen« (F 2015). Regie: Stéphane Brizé. Darsteller: Vincent Lindon, Karine de Mirbeck, Matthieu Schaller. Filmstart: 17. März