Der Charme alter Damen

Berlin Beatet Bestes. Folge 333. Hubert: Gute Nacht, Mutter (1969).

Vor 30 Jahren, als MTV boomte und alle von Musikvideos sprachen, wurde prognostiziert, dass Musik und Bild zukünftig untrennbar miteinander verbunden sein würden. Das Gegenteil ist eingetroffen. Die Musik wurde vom Bild getrennt. Der Streaming-Dienst Spotify braucht keine Bilder, noch nicht mal die der Künstler. Der Song allein zählt, der Rahmen – das Album, die Umstände –, in dem die Musik entstand, ist unwichtig. Natürlich werden noch immer Millionen von CDs verkauft, aber noch viel mehr Leute kaufen nicht mehr einzelne Titel oder Alben, sondern streamen Musik. Und MP3 brauchen nun mal kein Bild und keinen Umschlag. Produkte ohne Verpackung gab es zuletzt im Sozialismus. Sind wir musikalisch also im Sozialismus angekommen?
Gestern hatte ich Besuch vom Radio. Für eine Sendung über Plattencover wurde ich als Experte interviewt. Ich hab’ ganz schön rumgestottert. So richtig ernsthaft hatte ich noch nie über Cover nachgedacht, auch nicht darüber, nach welchen Kriterien ich Platten aussuche. Mut zum Klischee zeigen – zum starken visuellen Reiz –, bunt sollen sie sein. Besser ist es noch, wenn das Klischee nicht ganz hinhaut oder übertrieben wirkt.
Im Gegensatz dazu präsentierte ich eine Sammlung von russischen Singles, die durch ihre strenge Abstraktheit auffallen. Da es in der Sowjetunion nur ein staatliches Label gab, mussten die Cover auch nicht mit denen anderer Firmen konkurrieren. Außerdem war der kapitalistische Starkult verpönt, also schmückten auch keine Hochglanzfotos der Künstler die Hüllen. Die daraus resultierende graphische Strenge hat einen gewissen Charme. Wie der von alten Damen. Aber ich sehe in den sowjetischen Covern vor allem die Angst, irgendwas Unbequemes auszudrücken. Diese Angst, anzuecken, bestimmt weite Teile linker Graphiken leider bis heute.
Am Wochenende kaufte ich auf dem Flohmarkt einige Singles. Auch die Single von Hubert lag in meinen Fingern, ich war unentschlossen, bis der Händler sagte: »Komm, die kriegst du mit dazu. Ich will sie nicht mehr haben.« »Nein! Wir brauchen die auch nicht«, meinte meine Freundin noch, aber da hatte ich Hubert, den Heintje-Clon, schon eingesteckt. »Trallalalallalala … bin ich erst einmal groß, sing ich den Lohengrin … « Die Musik tut wirklich weh, aber das Cover mit dem grell strahlenden Hubert ist unschlagbar. Ein Photoshop-Traum, bevor es überhaupt Photoshop gab!
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.