Nepal, 20 Jahre nach dem Beginn des Aufstands der Maoisten

Auf maoistischen Pfaden

In Nepal gibt es immer noch dieselben Probleme wie zu Beginn der maoistischen Rebellion vor 20 Jahren, an der Macht der herrschenden Clans und der Armut eines großen Teils der Bevölkerung hat sich kaum etwas geändert. Mittlerweile regieren wieder dieselben Familien wie vor dem Sieg der Maoisten.

In den Bergen Westnepals liegt das Dorf Lukumgau. Es war eines von vielen Dörfern im Zentrum des maoistischen Aufstands, der von 1996 bis zum April 2006 andauerte und zur Abdankung des Monarchen Gyanendra im Jahr 2008 und damit zum Verschwinden des letzten hinduistischen Königreichs der Erde führte. Hier in Lukumgau bereiteten sich Tausende maoistische Rebellen auf einen ihrer größten militärischen Erfolge vor: den Überfall auf die Basarstadt Beni im April 2004. Für mehrere Monate waren die Bewohner Lukumgaus Gefangene in ihrem eigenen Dorf. Von 2008 bis zu ihrer Abwahl 2013 stellten die ehemaligen Rebellen dann sogar die Regierung des Landes.
Heutzutage spricht in Lukumgau kaum noch jemand über den bewaffneten Aufstand. Auch nicht im sieben Laufstunden entfernten Rukumkot. Kurz nach dem Sieg der Maoisten waren die Dorfbewohner noch auskunftsfreudiger. In Rukumkot hatten die Maoisten Versammlungen abgehalten und Trainingslager veranstaltet, in der Nähe hatten sie eines ihrer Umerziehungslager. Die Rebellen forderten die Dorfbewohner damals mit der Waffe in der Hand auf, sie »Freunde« zu nennen. Alle paar Monate sei auch die königliche Armee vorbeigekommen, erzählten die Bewohner. Mit den neusten automatischen Waffen im Anschlag seien die Soldaten im Zeitlupentempo aus dem neun Laufstunden entfernten Musikot herangeschlichen gekommen, man habe sie förmlich rufen hören: »Hallo, wir kommen!«. Rebellen samt ihrer mit Schießpulver geladenen Büchsen hätten die Soldaten bei ihrem Eintreffen nie vorgefunden, dafür hätten sie des Öfteren einen Dorfbewohner mit zurück nach Musikot genommen, unter dem Vorwurf, ein Maoist zu sein. Viele Menschen im ländlichen Nepal konnten dem täglichen Druck nicht standhalten. Sie verfielen dem Alkohol oder dem Wahnsinn, sagten einen falschen Satz zu viel und verschwanden ohne Wiederkehr.
Halt und ein Gefühl der Normalität vermittelte den Bewohnern Rukumkots während des langjährigen Bürgerkriegs ein standhafter Lehrer, einer der wenigen Hochqualifizierten, die noch geblieben waren. In reinem Oxford-Englisch erzählte er mir nach dem Sieg der Maoisten seine Geschichte, auch an regnerischen Tagen konnte kein Schlammspritzer der Dorfstraße dem gebügelten Anzug des Gentleman etwas anhaben. Obwohl er alle paar Monate nach Musikot musste, diente er der Armee nicht als Spion. Die restliche Zeit bearbeiteten ihn die Maoisten; trotzdem blieb der Lehrer und war eine Art Fels in der Brandung. Seinen Namen wollte er aus Angst dennoch nicht nennen.
Mit einem anderen unbekannten Helden stand ich 2006, kurz nach dem Ende des maoistischen Aufstandes, der mehr als 17 000 Menschen das Leben gekostet hatte, auf seiner Terrasse in Lukumgau. Rujidhan, ebenfalls Lehrer, erzählte von seinem Traum, dass sein Dorf einmal Strom besitzen würde. Dank seines tatkräftigen Engagements und eines kleinen Wasserkraftwerks wurde der Traum schließlich wahr. »Jetzt ist mein Dorf Mittelalter mit Strom«, sagte er dann beim Besuch im Februar vergangenen Jahres. Auch wenn mittlerweile eine Jeepstraße Musikot mit Lukumgau verbindet, kann der Weg dorthin lange dauern. Wer wenig Geld hat oder schnell in die Hauptstadt Kathmandu möchte, muss zu Fuß einen 3 000 Meter hohen Pass überqueren und dann 1 600 Meter zur nächsten Jeepstraße hinabsteigen.
Kurz hinter dem Pass, der Ende Februar noch tiefverschneit ist, liegt das Dorf Gorase. Beinahe alle Lehmhäuser sind verlassen. Einzig ein paar Frauen kümmern sich um die Kinder, die Felder, die Tiere, den Haushalt und den kleinen Laden. Sie und die verbliebenen Alten grüßen den vorbeikommenden Wanderer freundlich und erzählen von ihren Sorgen. Jedes Jahr macht sich mehr als eine halbe Million nepalesischer Männer auf der Suche nach Arbeit ins Ausland auf. Noch immer lebt in Nepal die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Ein Liter Milch oder ein Kilo Huhn sind teurer als in Deutschland. Da die meisten Männer aus der materiell verarmten Landbevölkerung für Jahre ins Ausland gehen, kommen die Frauen mit der Landwirtschaft nicht hinterher. So müssen im Agrarland Nepal täglich 400 000 Liter Milch importiert werden.
Auch Jahre nach dem Sturz König Gyanendras gibt es in Nepal so gut wie keine Industrie, allein der Tourismussektor verzeichnet nennenswerte Einnahmen. 30 Prozent des nepalesischen Bruttosozialprodukts bestehen aus internationalen Hilfsgeldern, weitere 30 Prozent aus Überweisungen von Auslandsnepalesen, die vorwiegend in den Golfstaaten arbeiten. Die Politiker aller Parteien sind hauptsächlich damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekämpfen. Es gelang ihnen nicht einmal, den Betrieb auf der einzigen, 40 Kilometer langen Eisenbahnstrecke des Landes aufrechtzuerhalten. Eine Bahnstrecke, die das Flachland Nepals von Ost nach West durchlaufen könnte, ist nicht einmal im Bau. Dafür lassen sich viele Politiker für die erfolgreiche Integration von angeblich 30 000 maoistischen Kämpfern feiern. Dabei hatte sich der einstige Rebellenführer Prachanda nach Abschluss des Friedensvertrags über seinen damaligen Verhandlungspartner Girija Koirala lustig gemacht. In einer Rede vor seinen Kämpfern sagte Prachanda damals, dass er am Ende nicht einmal mehr 8 000 Mann gehabt habe. Die nepalesische Armee zählte damals 100 000 Soldaten.
Die linksgerichtete Regierung, die nach dem Ende des Bürgerkriegs an die Macht kam, konnte die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht beheben, sie wurde 2013 abgewählt. Von über 40 Prozent der Parlamentssitze konnten sie nur noch 80 von 601 Sitzen halten. Seither regieren wieder die beiden politischen Parteien, deren Politik einer der Gründe für den maoistischen Aufstand im Jahr 1996 war. Die Nepalesische Kongresspartei (NCP) und die kommunistische Partei CPN–UML begünstigen die hohen hinduistischen Kasten und gelten als korrupt. Sie waren einst mitverantwortlich dafür, dass die ersten Demokratisierungsversuche Nepals im Jahre 1990 zunichte gemacht wurden.
Selbst viele Nepalesen, die nichts mit der Ideologie der Maoisten anfangen können, geben heute zu, dass deren Aufstand berechtigt war: Durch das hinduistische Kastensystem wird ein großer Teil der Bevölkerung benachteiligt, Großgrundbesitzer beuten viele Bauern aus. Die politische Macht befand sich vor dem Aufstand nur bei einem kleinen Zirkel von Familien aus höher gestellten Kasten wie den Koiralas. Im Jahr 2013 wurde dann erneut ein Koirala von der NCP als Ministerpräsident Nepals vereidigt. Er war der Vierte aus seiner Familie, der dieses Amt innehatte. Seit 2015 ist Khadga Prasad Oli von der UML Ministerpräsident, ebenfalls ein altbekannter Politiker.
Doch wieso konnten sich die Maoisten nicht halten? »Bei den Wahlen 2008 waren die Strukturen der Maoisten bei uns im Westen Nepals noch intakt. Neben der Urne in unserem Wahllokal stand ein Maoist und kontrollierte die Wahlzettel, bevor sie dort verschwanden. Doch den Menschen hier war es egal – Hauptsache endlich Frieden«, antwortet ein Lehrer im Dorf Sera auf diese Frage. In einem abgelegenen Dorf im Distrikt Kalikot erzählt ein Bauer: »Die Maoisten redeten immer davon, dass sie dafür kämpfen, dass es uns einfachen Menschen auf dem Land besser geht. Aber nachdem sie die Wahlen 2008 gewonnen hatten, sind sie alle nach Kathmandu gerannt.« In den Städten sind die ehemaligen Wähler der Maoisten ebenfalls tief enttäuscht. »Die wissen doch gar nicht, was sie wollen. Der eine Führer spricht vom Kommunismus oder von Revolution, der andere von Sozialismus und Marktwirtschaft und der dritte sagt mal das eine und dann das genaue Gegenteil«, antwortet mir ein Ladenbesitzer in der Basarstadt Butwal, wo wie früher zwölf Stunden am Tag der Strom ausfällt.
Dass nicht alles schlecht ist, was in den vergangenen Jahren passiert ist, erzählt im Distrikt Rolpa ein nepalesischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. »Auch wenn ich kein Freund der Maoisten bin, da ich sie während des bewaffneten Konfliktes oft genug erlebt habe – es ist ein Fakt, dass in den Regionen in denen sie die das politische Sagen hatten, weniger Hilfsgelder verschwendet wurden. Es herrscht Frieden, und man kann hingehen, wohin man möchte. Nepal hat über 200 Jahre Monarchie hinter sich und jetzt besitzen wir ein Parlament«, wobei er jedoch die Augen verdreht. Wahrscheinlich, weil dieses Parlament es nicht schafft, ein Kontrollkomitee zu ernennen, damit Milliarden Hilfsgelder der sogenannten internationalen Gemeinschaft für die Opfer des schweren Erdbebens vom April vergangenen Jahr endlich verwendet werden können. Dieses Komitee hatten die Geberländer gefordert, um der Korruption Einhalt zu gebieten.
Die Bevölkerungsmehrheit Nepals lebt mittlerweile im Terai, dem flachen Teil Nepals. »Schon lange hätte man Kathmandu den Hauptstadtstatus entziehen müssen, um ihn einer der neuen großen Städte im Terai zu geben. Kathmandu kann kaum mehr wachsen und es ist unmöglich, das, was schon steht, in eine moderne Großstadt zu verwandeln«, so Moritz Steinhilber, der das Land seit Jahrzehnten immer wieder bereist.
Doch die alten Führungsschichten haben diese Entwicklung in der neuen Verfassung ignoriert. Sie wurde erst im September vergangenen Jahres verabschiedet, nach dem Sturz der Monarchie hatten sich die regierenden Politiker jahrelang nicht auf eine Verfassung einigen können. Begleitet worden war die Verabschiedung von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Dutzenden Toten. Die Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen sei nicht aufgehoben worden, kritisierten unter anderem Vertreter einiger Minderheiten, aber auch feministische Organisationen. Hinduistische Gruppen protestierten ebenfalls, da sie die säkulare Ausrichtung ablehnten.
Bis Anfang Februar hatten sich monatelang Tausende Lastwagen im Terai an der Grenze zu Indien gestaut. Die Minderheit der Madhesi, die dort vor allem ansässig ist, demonstrierte zu dieser Zeit gegen die neue Verfassung und forderte mehr Mitspracherechte. Indien hatte die Grenze aus Sicherheitsgründen geschlossen. Da Nepal in vielen Bereichen auf Importe angewiesen ist, wurde die Versorgungslage kritisch, auch Hilfslieferungen für die Erdbebenopfer kamen kaum durch. Ein Liter Benzin wurde in Nepal auf dem Schwarzmarkt zu einem Preis bis zu fünf US-Dollar gehandelt. Immer wieder hatten Mitglieder der politischen Parteien des Flachlands Blockaden durchgeführt. »Die traditionellen Eliten, die hochkastigen Bahun und Chhetri der Mittelgebirgsregion wehren sich mit allen Mitteln gegen die neuen Eliten aus dem Terai«, so Steinhilber. Bei den gewalttätigen Ausschreitungen der Madhesi sind seit 2007 Hunderte Menschen umgekommen. So wird der Kampf um die Pfründe auf Kosten der Bevölkerung weitergehen.

Der Bürgerkrieg in Nepal endete am 21. November 2006 mit der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten Girija Prasad Koirala und dem maoistischen Rebellenführer Prachanda. Ende 2007 wurde die Monarchie durch einen Beschluss des Parlaments abgeschafft und der Übergang zu einer »konstitutionellen demokratischen Bundesrepublik« vereinbart, die schließlich am 28. Mai 2008 ausgerufen wurde. Bei den Wahlen 2008 erhielten die Maoisten 220 Sitze und wurden stärkste Partei. 2013 verloren sie bei den Wahlen diese Position an die Kongresspartei, zweitstärkste Partei wurden die Marxisten-Leninisten der UML.