Betrug als Geschäftsmodell der deutschen Autoindustrie

Wer reinigt, verliert

Die deutsche Autoindustrie ist der ganze Stolz der Standortpatrioten. Ihr Geschäftsmodell umfasst aber nicht nur bei VW Betrug und Schummelei, wie die neuesten Entwicklungen zeigen.

Die Wirtschaftspresse ist besorgt. »Es droht ein Paradigmenwechsel«, schreibt das Handelsblatt und sieht mit Blick auf die Dieselabgasaffäre eine »Eiszeit für die Autoindustrie« aufkommen. »Die Erfolge jahrelanger Lobbyarbeit stehen auf dem Spiel«, warnt die Zeitung. Doch davon kann keine Rede sein. Statt Sanktionen und Strafen fürchten zu müssen, dürfen sich die Manager der Autohersteller über saftige Subventionen für ihre Elektroautos freuen. Die Bundesregierung steht in unverbrüchlicher Treue zu einem Wirtschaftszweig, dessen Manager gerade ihre Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt haben.
Wenige Tage bevor sich der »Autogipfel« aus Branchen- und Regierungsvertretern im Bundeskanzleramt auf die Förderung von Elektroautos mit bis zu 600 Millionen Euro für Kaufprämien und 300 Millionen für Ladestationen und andere Infrastruktur einigte, hatte Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) das Ergebnis der Untersuchung des Kraftfahrtbundesamts zu Abgasmanipulationen präsentiert – und wahrheitswidrig als Entlastung der Hersteller verkauft. Im vergangenen September hatten Untersuchungen in den USA gezeigt, dass VW systematisch und in großem Stil Abgasmanipulationen an Dieselmotoren vorgenommen hatte. Mindestens elf Millionen VW-Fahrzeuge stoßen weitaus mehr gesundheitsschädliche Stickoxide aus als erlaubt.
Nachdem das bekannt geworden war, kam die berechtigte Frage auf, ob auch andere Hersteller solche Betrügereien begangen haben. Nun steht fest: VW ist kein Einzelfall. Die deutschen Autohersteller – der ganze Stolz der Standortpatrioten – sind systematische Schummler.
Dobrindt hatte nach Bekanntwerden der VW-Affäre das Kraftfahrtbundesamt mit Nachmessungen an 53 verschiedenen Dieselmodellen aller Hersteller beauftragt. Der Bericht wurde monatelang unter Verschluss gehalten. Aus gutem Grund: Die Behörde hat fast allen Herstellern falsche Angaben nachgewiesen. Der Ausstoß von Stickoxiden ist in Tests im Labor niedriger als im Echtbetrieb. Wie bei Fabrikaten von VW haben auch Fahrzeuge anderer Hersteller eine Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung. Sie wird bei niedrigen Temperaturen aktiviert, bei Opel etwa ab 17 Grad, bei Daimler ab zehn Grad. Damit soll angeblich der Motor geschont werden. Anders als die VW-Manipulationen seien diese Abschalteinrichtungen jedoch nicht verboten, sagte Dobrindt mit Verweis auf sogenannte Thermofenster. Er beruft sich auf eine EU-Regelung, die diese Technik für den Fall erlaubt, dass aufgrund niedriger Temperaturen Motorschäden oder erhöhte Unfallgefahr drohen. Diese Ausnahme haben die Hersteller jedoch zur Regel gemacht.
Statt das zu verurteilen, erklärte Dobrindt dieses Vorgehen kurzerhand für legal. Sanktionen gibt es nicht. Audi, Porsche, Mercedes, Volkswagen und Opel rufen zwar insgesamt 630 000 Fahrzeuge zurück. Die Hersteller legen aber großen Wert auf die Feststellung, dass es sich um einen freiwilligen Service handelt. Denn gegen Regeln hätten sie nicht verstoßen.
Immerhin wird Dobrindts fragwürdiges Vorgehen ein parlamentarisches Nachspiel haben. Die Linkspartei und die Grünen haben im Bundestag einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Er soll Dobrindts Rolle in diesem Schmierentheater aufklären. Die Opposition will herausfinden, ob es Absprachen zwischen dem Verkehrsminister und der Autoindustrie gab. Es müsse Gründe dafür geben, dass die Bundesregierung so zahm geblieben sei, sagte der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Dietmar Bartsch. »Es hat viel zu lange ein Täuschen und Tricksen gegeben.« Die Grünen kritisieren, dass hierzulande, anders als in den USA, keine Konsequenzen aus Verfehlungen gezogen werden. »In Deutschland haben wir ein Verkehrsministerium, das sich daran beteiligt, die Probleme unter den Teppich zu kehren«, sagte der Bundestagsfraktionsvorsitzende Anton Hofreiter.
Auch Umweltverbände sind über Dobrindts Bericht empört. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die seit Jahren auf das Problem unwirksamer Dieselrußfilter aufmerksam macht, fordert ein Ende des »Schmusekurses« gegenüber der Autobranche. Nach Berechnungen der Organisation wäre zum Beispiel ein Opel Zafira in Wiesbaden – eine Stadt mit einer Durchschnittstemperatur von 9,8 Grad im Jahr – 2015 zu 81 Prozent der Jahresstunden ohne die vorgesehene Abgasreinigung gefahren. »Verkehrsminister Dobrindt beugt das Recht, wenn er Diesel-PKW, die zu mehr als 80 Prozent der Jahresstunden ohne funktionierende Abgasreinigung unterwegs sind, als legal einstuft und damit Millionen betroffene Autohalter im Abgasdunst allein lässt«, sagte Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der DUH. »In der EU wie in den USA besagen die Vorschriften, dass Bremsen oder Abgaskatalysatoren auch bei tiefen Minustemperaturen funktionieren müssen.« Die DUH hat immer wieder darauf hingewiesen, dass auch andere Hersteller als VW schummeln – und ist dafür von der Industrie juristisch schwer unter Druck gesetzt worden.
Die Repräsentanten der Automobilindustrie fühlen sich unangreifbar, weil ihre Branche in der Tat mächtig ist. Die Autoindustrie macht in Deutschland einen Umsatz von mehr als 400 Milliarden Euro im Jahr, das ist mehr als das Volumen des Bundeshaushalts. Hersteller und Zulieferer beschäftigen mehr als 850 000 Menschen – die Drohung, Arbeitsplätze zu verlagern, zieht. In Berlin hat die Branche beste Verbindungen. Konzerne und Verbände haben etliche Lobbyisten aus der Politik eingekauft. Daimler hat zum Beispiel den Christdemokraten Eckart von Klaeden angeheuert, der Staatsminister im Bundeskanzleramt war. Mit seinem Parteifreund Matthias Wissman ist sogar ein ehemaliger Bundesverkehrsminister Präsident des Verbands der Automobilindustrie. Aus seiner langjährigen Politkarriere, etwa als ehemaliger Vorsitzender der CDU-Nachwuchsorganisation Junge Union, dürfte er alle wichtigen Personen in der Bundesregierung, aber auch in den Ländern gut kennen. Die niedersächsische Landesregierung sitzt als Anteilseigner direkt im Aufsichtsrat von VW.
In dem Konzern sollen die Spitzenkräfte unterhalb der Vorstandsebene für die Manipulationen verantwortlich sein. Der Konzern hat gewaltige 16,2 Milliarden Euro für die Aufarbeitung des Skandals zurückgestellt. Beschäftigte fürchten um ihre Arbeitsplätze, Kunden um den Wert ihrer Autos. Die Vorstandsmitglieder sehen dennoch keinen Anlass, auf ihre Bonuszahlungen zu verzichten. Nach großer öffentlicher Empörung haben sie sich immerhin dazu bereit erklärt, die Auszahlung zeitlich zu strecken. Im Geschäftsbericht für 2015 findet sich ein einziges Mal das Wort »Entschuldigung« – gegenüber den Aktionären.
Mit der Abwrackprämie verschaffte die Bundesregierung der Branche 2009 trotz Wirtschaftskrise gute Absätze. In der derzeitigen Imagekrise der Automobilkonzerne fördert die Regierung den Verkauf von Elektroautos, was vor allem Wohlhabenden mit Zweit- und Drittwagen zugute kommen wird. Die deutschen Konzerne hinken in diesem Bereich der Konkurrenz hinterher. Bislang haben sie sich dafür nicht besonders interessiert und kaum in ökologische Technologie investiert. Wie auch immer die Mobilität im 21. Jahrhundert aussehen wird: Autos und damit die sie herstellende Industrie werden eine andere Rolle spielen als in der Vergangenheit. Klimaschäden und der Krieg auf den Straßen mit Toten und Verletzten erfordern andere Modelle der Fortbewegung als die weitere Förderung des Individualverkehrs. Gerade weil so viele Arbeitsplätze an ihr hängen, bräuchte die Autobranche keine staatliche Protektion, sondern einen Plan für den industriellen Wandel.