100 Jahre Relativitätstheorie

Tempolimit für Kausalität

Albert Einsteins Meisterwerk, die Allgemeine Relativitätstheorie, ist 100 Jahre alt: Überlegungen zu Relativität und Universalismus.

Alles ist relativ. Das ist einer der meistgebrauchten Sätze, wenn es um die Theorien Albert Einsteins geht. Fortsetzen könnte man ihn so: Es gibt keine absolute Wahrheit, alles hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Credo der nihilistischen Postmoderne: Nichts ist wahr und alles ist möglich. So gesehen passen die Zeichen der Zeit zum 100. Geburtstag der Allgemeinen Relativitätstheorie, aber nicht weil sich Einsteins Physik als Stichwortgeberin für diese Denkweise eignen würde. Sondern weil das Gegenteil der Fall ist.
Das bedeutet nicht, dass Einsteins Theorien ganz falsch benannt wären. Denn es stimmt ja, dass die Relativität mit der Prämisse eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit bricht. Es gibt keinen übergeordneten, göttlichen Beobachter mit drei riesigen Zollstöcken und einer Uhr, die die wahre Zeit im Universum misst. Stattdessen sind Hinz und Kunz gleichberechtigt mit ihren jeweils eigenen Zollstöcken und Uhren unterwegs – und mit ihrer eigenen Wahrheit, die sehr wohl vom Standpunkt abhängt. Zwischen zwei Ereignissen, die in Hinz’ Wahrnehmung gleichzeitig stattfinden, können für Kunz Jahre vergehen. Das geht so weit, dass sich verschiedene Betrachter unter Umständen nicht einmal auf die Reihenfolge der Ereignisse einigen können.
Keine schöne Vorstellung für die Geschichtswissenschaft. Aber kein Grund zur Sorge, denn spätestens bei der Kausalität hört der Spuk auf. Ereignisse können nur als Ursache und Wirkung miteinander verbunden sein, wenn also eine Information, etwa in Form von Licht, von der Ursache zur Wirkung gelangt. Zum Beispiel: Die Sonne explodiert und ich bekomme davon nichts mit. Natürlich nicht, denn das Licht der Sonne benötigt etwa acht meiner Minuten, um die Erde zu erreichen. Nichtsahnend entzünde ich eine Wunderkerze und wenig später ist alles vorbei. Abhängig von Ort und Geschwindigkeit werden unterschiedliche Beobachter unterschiedlicher Meinung sein, ob die Sonne zuerst explodiert ist oder ob die Wunderkerze zuerst gebrannt hat. Und alle haben Recht. Aber niemand, wo auch immer er sein mag und wie schnell er sich bewegen mag, sieht eine Welt, in der die Erde verbrennt, bevor die Sonne explodiert. Wie viel Zeit zwischen Ursache und Wirkung vergeht, wird unterschiedlich wahrgenommen, aber über die Reihenfolge sind sich alle einig. Absolut.
Es ist eben nicht alles relativ, schon gar nicht in der Relativitätstheorie. Zumal in deren Zentrum etwas universal steht: die Lichtgeschwindigkeit. Die ist für alle gleich, immer und überall. Das ist jedenfalls der Kern der Speziellen Relativitätstheorie von 1905, die man genauso gut als Theorie über die Universalität der Lichtgeschwindigkeit bezeichnen könnte. Aber es geht um mehr als um eine Höchstgeschwindigkeit für Licht. Es geht um ein Tempolimit für Kausalität und dessen relative Folgen. In diesem Sinne wäre die Man-kann-nicht-alles-haben-Theorie ein guter Name. Lichtgeschwindigkeit universell, Zeit relativ – das lässt sich offenbar machen. Andersherum ginge es vielleicht auch, aber Universalität für alles ist einfach nicht drin. Ich bin nicht religiös, aber wenn ich Gott wäre und mich um die Kausalität im Universum kümmern müsste, würde ich mich auch für die universelle Lichtgeschwindigkeit entscheiden. Das macht die Sache überschaubarer.
Zwischen der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie liegen historisch betrachtet elf Jahre und das Raum-Zeit-Kontinuum. Dieses mathematische Konstrukt ist zentral für beide Theorien, aber es war nicht Einsteins Entdeckung, sondern die eines seiner ehemaligen Professoren am Polytechnikum Zürich, Hermann Minkowski. Dieser erkannte wenige Jahre nach der Veröffentlichung, dass die Spezielle Relativitätstheorie hervorragend in einer vierdimensionalen sogenannten Raumzeit abgebildet werden kann. Obwohl Einstein mit dieser Idee nicht sofort einverstanden war, bildet sie doch die Basis für seine beeindruckendste Arbeit, die Allgemeine Relativitätstheorie. Die Spezielle Relativitätstheorie ist eine Theorie über Kausalität in Raum und Zeit, Geschwindigkeit, Masse und Energie. Ihre Verallgemeinerung ergänzt Gravitation und Beschleunigung und stellt dabei Isaac Newtons Physik vom Kopf auf die Füße.
Newton beschreibt die Gravitation in seiner 1687 erschienenen Arbeit als eine Kraft, die von Materie ausgeht und auf Materie wirkt. Massen ziehen sich gegenseitig an. Wenn ein Fallschirmspringer in Newtons Welt aus einem Flugzeug springt, dann ist es diese Anziehungskraft, die für seine Beschleunigung zur Erde hin sorgt. Um zu erleben, wie es ist, wenn keine Kraft auf den Körper wirkt, muss man bei Newton weit hinaus: in die Schwerelosigkeit.
In der Relativitätstheorie ist die Gravitation keine Kraft, sondern das Resultat einer Krümmung der Raumzeit. Und in der Raumzeit der Erde ist nach unten das Geradeaus. Der Fallschirmspringer wird nicht von einer Kraft nach unten gezerrt, er bewegt sich einfach weiter entlang der Krümmung. Das gleiche gilt aber auch für eine As­tro­nau­tin in der Schwerelosigkeit, sie bewegt sich ebenfalls entlang der Raumzeit, die ist nur deutlich weniger krumm. Freier Fall und Schwerelosigkeit sind in der Relativitätstheorie das Gleiche, eine Bewegung ohne Einfluss äußerer Kräfte. Und gefühlt hat Einstein Recht. Astronautinnen und Astronauten machen ihre ersten Erfahrungen mit der Schwerelosigkeit im freien Fall, allerdings innerhalb und nicht außerhalb eines Flugzeugs, damit die Luft nicht stört. Ob schwerelos oder im freien Fall lässt sich nicht unterscheiden, jedenfalls nicht mit geschlossenen Augen.
Aber Einstein liegt nicht nur gefühlt richtig, seine Theorie wurde in unterschiedlichsten Experimenten immer wieder bestätigt. Und trotz ihres Namens ist die Relativitätstheorie mit ihrer postulierten Äquivalenz von Masse und Energie, Gravitation und Beschleunigung sehr viel universeller als Newtons Mechanik. Die Raumzeit macht es möglich. Das Wunderbare daran ist: Kein Mensch kann sich das vorstellen, eine vierdimensionale gekrümmte Struktur, in der Raum und Zeit miteinander verwoben sind und die auch noch schwingen kann. Es gibt Modelle, zum Beispiel mit Kugeln auf gewölbten Oberflächen, aber die sind stark vereinfacht und haben ihre Tücken. Wirklich verstehen lässt sich das nur mit Mathematik, und – die Meinungen gehen hier sicher auseinander – vielleicht ist die Allgemeine Relativitätstheorie historisch gesehen die erste physikalische Theorie, die den Bereich des Vorstellbaren auch dabei weit hinter sich lässt.
Sogar Albert Einstein wollte sich nicht alles vorstellen, was seine Theorie so erlaubt. Schwarze Löcher etwa, sie beschreiben eine korrekte Lösung der Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Aber er hat nicht geglaubt, dass sie tatsächlich existieren. Heute weiß man es besser. Auch bei Gravitationswellen, den Schwingungen der Raumzeit, war Einstein skeptisch. Er dachte, sie seien viel zu schwach, um jemals entdeckt zu werden. Tatsächlich hat es lange gedauert, aber am 15. September 2015 haben Forscherinnen und Forscher erstmals Gravitationswellen gemessen. Und sie waren stärker, als Einstein dachte, was nicht verwunderlich ist, denn sie entstanden bei der Kollision zweier schwarzer Löcher. Vor etwa 1,3 Milliarden Jahren.
Es gibt heute bereits Teleskope für elektromagnetische Wellen aller möglichen Frequenzen, von Radiowellen über Licht bis zu Gammastrahlen. Satelliten mit Partikeldetektoren umkreisen die Erde. Und mit der Vermessung von Gravitationswellen in Gravitationsteleskopen kommt jetzt ein neues Sensorium dazu, das der einen ganz anderen Einblick in das Universum und seine Geschichte liefert. Die Relativitätstheorie ist sicher nicht das Ende dieser Geschichte, aber sie funktioniert unheimlich gut. Leider. Denn das bedeutet auch, dass man von diesem Sonnensystem nicht so ohne weiteres wegkommt. Die universelle Geschwindigkeitsbegrenzung und der Aufbau der Raumzeit sind jedenfalls kein Grund für Optimismus. Es gibt Ideen wie den Alcubierre-Warp-Antrieb: Wenn man sich nicht mit Überlichtgeschwindigkeit durch den Raum bewegen kann, wie wäre es dann, den Raum zu bewegen? Aber scheinbar ist dafür eine negative Energiedichte erforderlich, von der niemand weiß, wo sie herkommen soll. Dimensionssprünge fallen auch aus, es gibt in der Raumzeit keine zusätzlichen Dimensionen, durch die man springen könnte. Und dann sind da noch die Wurmlöcher, die noch niemand gesehen hat. Man geht davon aus, dass sie instabil sind, falls sie existieren.
Aber ob mir die Ergebnisse nun gefallen oder nicht, die Relativitätstheorie steht für einen erfolgreichen Versuch, in einer unvorstellbar komplizierten Welt universelle Wahrheiten zu finden. Und davon kann es gar nicht genug geben.
Den Kern seiner Allgemeinen Relativitätstheorie hat Albert Einstein bereits am 25. November 1915 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen. Am 20. März 1916 reichte Albert Einstein seinen Artikel »Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie« bei der Fachzeitschrift »Annalen der Physik« ein, worin er einen ersten Überblick über seine Theorie gab. Am 11. Mai 1916 erschien die entsprechende Ausgabe.