Behrouz Khosrozadeh im Gespräch über die Täuschungsdiplomatie des iranischen Regimes

»Eine permanente Täuschung«

Behrouz Khosrozadeh wurde in Bushehr (Iran) geboren und lebt seit 1985 in Deutschland. Er arbeitet als Politologe und Publizist und ist Lehrbeauftragter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Mit der »Jungle World« sprach er über die Institutionalisierung von Tricks, Täuschungen und Propaganda in der Islamischen Republik Iran.

Sie bezeichnen die Islamische Republik Iran als die »Republik der Täuschung«. Wie meinen Sie das?
Ayatollah Khomeini sagte einmal: Zur Aufrechterhaltung des Nezams, des Regimes, kann der oberste Religionsführer selbst Beten und Fasten außer Kraft setzen. Wenn die Säulen des Islam aufgehoben werden können, dann ist das nicht mehr islamisch. Die Islamische Republik ist ein opportunistisches, auf Machtbesessenheit und Machterhalt ausgerichtetes Herrschaftssystem.
Taqiyya (Verheimlichung des Glaubens, Anm d. Red.) praktizierte Khomeini bereits im Pariser Exil, wo er den Iranern das Paradies versprach: Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Presse- und Meinungsfreiheit auch für Kommunisten und Minderheiten, kein Kleriker in Staatspositionen und so weiter. Ein paar Monate später in Teheran stellte er alles auf den Kopf. Der spätere Präsident Bani Sadr fragte ihn wütend: »Was machst du denn da? Was hast du in Paris erzählt hast?« Khomeini antwortete: »Ich bin nicht verpflichtet, mich an das zu halten, was ich gestern sagte, geschweige denn vor Monaten.«
Die Islamische Republik basiert auf ein paar handfeste Säulen mit dem Ziel »Hefz-e Nezam«, der Aufrechterhaltung des Regimes. Permanente Täuschung zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamten 37 Jahre dessen Bestehens.
Mit dem Begriff der Täuschung spielen Sie auch auf die Theorie und Praxis der Taqiyya im schiitischen Islam an. Was bedeutet das eigentlich?
Taqiyya ist eine Strategie des Überlebens, sie bezieht sich auf den Islam und nicht nur die Schia. Der Orientalist Ignaz Goldziher schrieb vor über 100 Jahren darüber. Es gibt entsprechende Koranverse und Hadiths. Als Muslim darf ich mich in Deutschland verstellen, wenn mein Leben oder mein Habe in Gefahr ist. Von Taqiyya haben die Schiiten auch innerhalb der Umma Gebrauch gemacht. Der sechste Imam, Jafar al-Sadeq, erlaubte Taqiyya, um der politischen Verfolgung durch die sunnitischen Abbasiden zu entgehen. Taqiyya ist eine defensive Schutzmaßnahme. Das hat Khomeini offensiv im Sinne des Machterhalts (Sturz der Monarchie) und Aufrechterhaltung der Macht umgewandelt.
Wenn Taqiyya ein Mittel war, mit dem sich verfolgte Schiiten gegen ihre sunnitischen Feinde schützen, was bedeutet das heute? Schließlich ist die Schia seit der Safawiden-Dynastie (1501–1722) die Staatsreligion des Iran, Schiiten stellen über 90 Prozent der Bevölkerung und der Klerus ist seit der Revolution von 1979 so mächtig wie noch nie. Wozu dann diese Geheimnistuerei?
Die Ayatollahs brauchen Taqiyya zum Überleben. Ein Altkulturland mit einem schlauen, aber geduldigen Volk, welches Olivier Roy (französischer Politkwissenschaftler und Islamexperte, Anm. d. Red.) als das säkularste in der Region bezeichnet, kann man nicht langfristig mit Steinzeitideologie in Schach halten. Das iranische Regime ist zwar kein homogenes Gebilde, es gibt Pragmatiker, Reformer und Islamisten, aber sie tricksen alle im Übermaß. Außenminister Javad Zarif sagt Ihnen ins Gesicht, dass niemand im Iran ob seiner politischen Gesinnung ins Gefängnis gesteckt wird. Am Beispiel des Nuklearprogramms können Sie auch die Anwendung der Taqiyya erkennen. Die Mullahs sind ignorant. Sie dachten wahrhaftig, sie könnten hinter Bergen, tief unter der Erde, Anlagen bauen und das sieht keiner. Und bis es bemerkt werde, hätten sie mit ihrer Täuschungsdiplomatie die Bombe gebastelt und könnten eines Tages die Welt mit der Meldung eines Atomtests überraschen. Sie waren nahe dran. 2009 besaß der Iran 1 763 Kilogramm drei- bis fünfprozentig angereichertes Uran. Ende 2012 waren es acht Tonnen. Es fehlten nur moderne Zentrifugen. Es war nicht ausgeschlossen, dass das Regime sie über Umwege beschaffen würde.
Wer sind diese »Feinde«? Und welchen Stellenwert haben sie ideologisch und real?
Man braucht die USA und Israel, um alles Missglückte zu kaschieren beziehungsweise um ihnen Verschwörungen zuzuschreiben. Der Iran braucht Feinbilder, nicht umgekehrt. Saudi-Arabien? Iraner kennen Khomeinis Satz: »Eines Tages werde ich vielleicht Saddam Hussein verzeihen können, aber den Saudis nie.« Khomeini hat die Araber verschreckt durch zahlreiche Aufrufe an die Araber, ihre ungläubigen Herrscher zu stürzen. Saudi-Arabien wurde besonders provoziert. Die Präparierung des Sprengstoffs in den Koffern iranischer Pilger ohne deren Wissen durch iranische Geheimagenten im Jahr 1986, die die saudische Polizei entdeckte, so dass ein Attentat vereitelt wurde, ist nur ein Beispiel. Khomeinis damals designierter Nachfolger Ayatollah Montazeri kritisierte ihn: »Informierte meinen, dass nicht alle Schuld die Saudis tragen. Sie haben voriges Jahr im Falle der peinlichen präparierten Sprengstoffsätze die Sache nicht an die große Glocke gehängt und sie nicht weiter verfolgt. Wir sind aber dadurch noch weiter ermutigt worden und haben diese Katastrophe von Mekka verursacht.« (Bei Auseinandersetzungen zwischen schiitischen Pilgern und der saudischen Polizei wurden 1987 mehr als 400 Menschen getötet, Anm. d. Red.)
Was bedeutet das für den Umgang westlicher Staaten mit dem Iran?
Das zeigte sich bei den Atomverhandlungen. Der Westen hat das ganze Regime als einen Block gesehen und nicht auf den Ausgang der Machtkämpfe in Teheran gewartet, das wäre ein gefährlicher Fehler gewesen. Westliche Verhandlungsführer wurden dank jahrelanger Erfahrung mit iranischen Gegenspielern selbst zu Taqiyya-Spezialisten, das heißt, sie sind voll im Bilde. Ich bin froh, dass sie am Verhandlungstisch saßen und nicht naive eloquent-exzellente Analytiker. Mit ein paar Reisen nach Teheran und ein paar Interviews im Hotel ist es nicht getan.
Welches Bild der Islamischen Republik Iran haben deutsche Politikberater, etwa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik? Sind sie auf die Taqiyya hereingefallen oder nur ihrem eigenen Wunschdenken vom Iran als einem verlässlichen Partner gefolgt?
Ich möchte keine Institution nennen, aber manche hatten Irans Atomprogramm verharmlost. Sie lassen auch Iran im Vergleich mit Saudi-Arabien, das ebenfalls zum Problem der Region gehört, besser wegkommen. Die iranischen Mullahs ermutigten die Houthi-Miliz im Jemen, sich von Sanaa in Richtung Aden zu bewegen. Sie dachten, dass Saudi-Arabien zusieht, wie der Kommandeur der al-Quds-Brigade, Qasem Soleimani, an dessen Grenzen auftaucht. So wie iranische Generäle auf den Golan-Höhen an der Grenze Israels herumpatrouillierten, bis Israel einige von ihnen jagte.
Ich saß 2012 in Potsdam mit einem Kollegen auf dem Podium. Dieser verharmloste Irans Atomprogramm. Er verglich den Konflikt zwischen den USA und dem Iran mit dem zwischen den USA und der Sowjetunion, wo vieles rhetorisch ausgetragen wurde. Der Kollege setzte die sowjetische Führung, die sich stets an internationale Spielregeln hielt, mit der iranischen gleich. Ich musste schmunzeln, als er für ein »rotes Telefon« zwischen Teheran und Washington plädierte, wie es seinerzeit zwischen den beiden Supermächten eingerichtet worden war. Solche Experten sind verantwortungslos. Die ideologisch-religiöse Komponente des Regimes wird von vielen westlichen Fachleuten unterschätzt. Das gilt auch für iranischstämmige Experten, die im Ausland aufgewachsen sind. Das gilt ebenso für führende Experten wie Michael Lüders und Volker Perthes. Ich meine nicht, dass es notwendige Bedingung wäre, im Land geboren zu sein, aber man braucht Einblick in das religiös-kulturell-politische Denksystem der herrschenden Elite in einem komplizierten Taqiyya-Staat wie dem Iran.
Was ist die Islamische Republik jenseits der Täuschung?
Ein Regime der Überlebenskünstler, eben durch Taqiyya. Im Juni 1994 haben sie eine Bombe im heiligen Schrein des achten Imam Reza in Mashhad hochgehen lassen, um es einer Oppositionsgruppe zuzuschreiben. Hunderte starben oder wurden verletzt. Sie haben keine Skrupel.
Die Islamische Republik erwischte den Iran zum ungünstigsten Zeitpunkt seiner Geschichte. Im Zeitalter der Diktatoren zählte die Monarchie nicht zu den brutalsten. Wie der Iran-Spezialist Fred Halliday 1979 schrieb,war der Iran in der gesamten Dritten Welt, ob kapitalistisch oder sozialistisch, eines der entwickeltsten Länder mit den dauerhaft höchsten Wachstumsraten. Kein Land war so nah dran, den Anschluss an die Industrienationen zu schaffen. Zwei Jahre vor dem Sieg der Revolution war das Pro-Kopf-Einkommen der Iraner höher als das Südkoreas, die Türkei und Malaysia lagen weit dahinter.
Was bedeutet das für die westliche Zivilgesellschaft?
Sie sollte interne Machtkämpfe innerhalb des Regimes im Auge behalten, sich aber darauf nicht beschränken. Man muss sich auf die Stärkung der iranischen Zivilgellschaft konzentrieren. Wie wichtig die EU für die Iraner ist, hat sie 1997 bewiesen. Im Zuge des Mykonos-Urteils 1997 (das die iranische Führung für die Ermordung von vier Oppositionellen in Berlin verantwortlich machte, Anm. d. Red.) zogen fast alle damaligen EU-Staaten ihre Botschafter aus Teheran zurück. Seitdem laufen prominente iranische Oppositionelle durch die Straßen Europas, ohne Angst haben zu müssen, dass das Geräusch eines Revolverschusses das Letzte ist, was sie hören. Die Iraner werden den inzwischen verstorbenen vorsitzenden Richter des Berliner Kammergerichts, Frithjof Kubsch, nicht vergessen. Das hatte auch Effekte im Inland. Die willkürliche Liquidierung zivilgesellschaftlicher Exponenten ließ nach und die Vollstreckung der Steinigungen wurde eingestellt.
Das Regime ähnelt einem angeschlagenen Boxer in der Ringecke. Es ist an der Zeit, das Thema Menschenrechte weniger halbherzig anzupacken.