Satire im utopischen Roman

Die besseren Zeiten sind auch nichts mehr wert

Gegenwärtige literarische Zukunftsentwürfe arbeiten mit den Mitteln der Satire. Viel kritische Kraft haben sie nicht.

Jahrzehnte nach Veröffentlichung der Klassiker von George Orwell oder Aldous Huxley erleben Dystopien dieser Tage eine Renaissance in der deutschsprachigen Literatur. Nicht nur im Bereich der Science Fiction, sondern auch in der Jugendliteratur, im Comic und in Politik- und Kriminalromanen zeichnen Autoren pessimistische Zukunftsentwürfe – mitsamt apokalyptischen Vorstellungen vom Ausbruch weiterer Weltkriege, von allumfassenden Überwachungssystemen oder patriarchal organisierten Diktaturen.
Das Interesse an Dave Eggers »Der Circle«, Michel Houellebecqs »Unterwerfung«, Georg Kleins »Die Zukunft des Mars« oder an dem erst kürzlich veröffentlichten Roman »Macht« von Karen Duve lässt darauf schließen, dass das Sujet der litera­rischen Fiktion einer ruinösen gesellschaftlichen Zukunft den Beifall derer gewinnen kann, die in der Gegenwart die im künstlerischen Stoff dargestellten gesellschaftlichen Strukturen wiedererkennen. Schließlich, und das macht die Begeisterung für dystopische Szenarien meistens aus, sehen die Leser ihre kritische Haltung bestätigt und setzen moralisches und ästhetisches Urteil in eins. Der hervorgerufene Effekt der Skepsis gegenüber Gegenwart und Zukunft stimmt mit der pädagogischen Intention von literarischen Dystopien überein: Als Warnutopien machen sie auf das bedrohliche Kommende aufmerksam, um damit gleichsam in kritischer Absicht auf das in der Gegenwart angelegte Schreckens­potential hinzuweisen und bieten – wenn sie entsprechend motiviert sind – Gegenrezepte als Lerninhalte an.
Die ansprechendere utopische Literatur, die derzeit veröffentlicht wird, beschäftigt sich mit der positiven Ausgestaltung eines zukünftigen Gesellschaftszustandes. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurde eine große Anzahl literarischer Eutopien – also Fiktionen des »guten Ortes« – veröffentlicht, die eine von Krieg, Armut und Ausbeutung befreite Gesellschaft beschreiben. Doch rückhaltlos optimistisch sind auch sie nicht: Autoren wie Jörg Albrecht und Thomas Raab bedienen sich satirischer Mittel, um ihre Zukunfts­visionen als trügerische Bilder freier und gerechter Gesellschaften zu entlarven.
In Jörg Albrechts Roman »Anarchie in Ruhrstadt« (2014) ist der Leser gleich zu Anfang mit zwei Zeit­ebenen konfrontiert: 2015 dankt die NRW-Ministerpräsidentin Hanne­lore Kraft nach einem brutalen Polizeieinsatz gegen eine Gruppe von Besetzern ab. György Albertz, ein aus dem Exil zurückgekehrter Schriftsteller, übernimmt gemeinsam mit einem Kollektiv aus sechs namen­losen Aktivisten das Ruder und macht aus den 53 Städten des Ruhrgebiets eine, die Ruhrstadt. »Jeder da draußen kann loslegen und Dinge schaffen! Jeder ist kreativ!« verkündet Albertz in die Mikrophone der Presseagenten und formuliert damit auch das politische Ziel der Ruhrstadt bis zum Jahr 2054. Eine Schar Designer, Autoren und anderer Kreativer aus dem Kreis um Albertz versucht, eine Art Kreativsozialismus zu etablieren, der die Bedürfnisse aller Einwohner befriedigen will. Hauptsächlich geht es dabei um ästhetische Ansprüche: »Und zugleich ist PERFORMANCE der große Leitbegriff für alle Stadtteile, das, was sie zusammenschweißen soll, der Kernterminus der Regierung.«
Vorerst gelingt das Experiment. Stadtteile werden umbenannt und auf ihre kreative Funktion – Design, Tanz, Architektur, Film, Musik etc. – hin bestimmt, der Anspruch des sogenannten Kernterminus, dass jeder von einer Sekunde zur anderen mit Lust und Kraft eine neue Rolle spielen kann, wird zumindest teilweise verwirklicht: Hausfrauen vereinigen sich zu einem Avantgarde-Künstlerkollektiv, Jugendliche beenden ihre Ausbildung im Supermarkt und schrei­ben und veröffentlichen von nun an Lyrikbände; ein Versicherungsvertreter aus Castrop-Rauxel stiftet mit seinem Spielfilm »Blut­invasion« das filmische Manifest zur Ruhrstadt – alle Akteure sind »Creatives Of The Month«.
Auf dieser Ebene erzählt der Roman chronologisch und der Person Albertz folgend die Ereignisse in der neugegründeten Millionenstadt. Die satirische Schilderung der postindustriellen Kreativstadt wird von Albrecht auch auf die eigentliche Gegenwart des Romans angewandt. Im Jahr 2044 begegnen sich Julieta Morgenroth und Rick Rockatansky, beide etwa 30 Jahre alt, verlieben und verlieren sich in der Ruhrstadt, suchen nacheinander und finden sich schließlich wieder. Die Handlung im Roman ist dabei zweitrangig. Albrecht ist darum bemüht, die Entwicklung und den Zustand der Ruhrstadt mithilfe von Personen, religiösen oder politischen Gruppen und Kunstwerken allerlei Art zu illustrieren und diese mit popkulturellen Mitteln zu überzeichnen.
So wird etwa im Hochglanzmagazin Glitzy & Geheimnisvoll von Marieta Morgenroth berichtet, der Mutter Julietas: Um finanziellen Erfolg bemüht, habe Morgenroth den Vornamen von Marina Abramović angenommen – nachdem diese im Jahr 2020 während einer Darbietung des Stücks »The Life and Death of Ma­rina Abramović« gestorben war. Die ersehnte Berühmtheit blieb aus, Marina Morgenroth nahm den Namen Marieta an und arbeitete weiter an ihren Performances. Der Konflikt zwischen Tochter und Mutter besteht darin, dass Julieta durch die Personifikation der Ruhrstadt in ­Gestalt ihrer Mutter zur Kreativität genötigt und somit für den Großteil ihres bisherigen Lebens zum Mitspielen bei der großen Performance der Ruhrstadt verpflichtet war.
Solcherlei Pointen sind selten in »Anarchie in Ruhrstadt«. Der im ­Titel angedeutete Umsturz und das Misstrauen der Figuren gegenüber dem staatlich verordneten Kreativsozialismus verpuffen in der Erzählung durch die überambitionierte Darstellung einzelner Personen und Verweisspiele. Die Essenz der Geschichte wird schon in der Buchmitte erklärt: »Und der Kapitalismus hat sich in ihr (der Ruhrstadt, Anm. d. A.) in eine neuere und noch wendigere Form transformiert, in einen modularisierten Stadtstaat, Sozialismus und kreativ im Ansatz, Kapitalismus im Ergebnis. Zwei gehn rein, einer kommt raus. Die Ruhrstadt, Donnerkuppel.« Das von Albrecht verwendete Bild der Donnerkuppel aus dem Film »Mad Max: Beyond Thunder­dome« (1985) von George Miller macht deutlich, inwiefern der Autor mit humoristischen Mitteln die von ihm kritisierte Entwicklung einer Eutopie hin zu einer umgreifenden Form des Kreativ­kapitalismus bloß als stoffliche Ummantelung benutzt: Im Jahr 2044 könnte der Autor selbst die Auszeichnung »Creative Of The Month« verdienen.
Thomas Raab verwendet in seinem Buch »Die Netzwerk-Orange« (2015) eine ähnliche Strategie, jedoch weniger popkulturelle Verweise. In Anlehnung an den von Stanley Kubrick 1971 verfilmten Roman »A Clockwork Orange« (1962) von Anthony Burgess entwirft Raab eine Eutopie in sozial- und kognitionswissenschaftlich geprägter Sprache. Die Geschichte des Romans wird in Form einer Soziographie des Sachbearbeiters Raab erzählt. Der Autor ist ein Beamter im Ministerium für Kunst und Kultur in der Hauptstadt des Unionsstaates im Jahr 2025 und fertigt seinen Bericht zum Betreff »Unruhen vom Oktober d. J.« für das Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung an. In dieser nahen Zukunft greift die »Neue Menschenrechtskonvention« von 2016, die jedem Menschen seine Individualität zubilligt, es gibt keine todbringenden Krankheiten mehr, man lebt glücklich in Wohlstand und Freiheit. Doch ein Anteil von fünf Prozent der Bevölkerung hat psychische Probleme, die medikamentös nicht zu beheben sind. Und so lädt der alte Psychologieprofessor und leitende Angestellte des Ministeriums für Lernen und Lehrentwicklung Franzer seine bei ihm in Ökopsychologie promovierende 42jährige Vertraute Lola Buresch ein, um sie für das Projekt einer neuen therapeutischen Methode zu gewinnen. Der Cyberpeut, kurz: CP, soll als therapeutische Instanz die Menschen zum kreativen Lösen ihrer ­eigenen Probleme anhand von Tierfabeln animieren. Denn die Menschen laufen Gefahr, so Franzer, durch ihr Glück der Langeweile und psychischen Erkrankung ausgeliefert zu werden und so letztlich zum Verfall der gesellschaftlichen Ordnung beizutragen. Franzer will nun mit Buresch den Erfolg seiner Idee auf einer Expedition durch die Unionsstadt und deren soziale Segmente (Etablierte, Moderne, Eskapisten, Experimentelle, Konservative usw.) erkunden.
Zeitgleich erzählt Raab von Wachmann, einem Dozenten für Creative Writing, der die Beispielgeschichten für seine Schüler kurzerhand dem CP entnimmt, sowie von den politisch halbwegs interessierten Studenten Jack, Caren, Cathy und den beiden ehrgeizigen Müttern Tertschik und Mayer. Mit letzteren im Zentrum entspinnt Raab eine Familiengeschichte mit Soap-Charakter, in der die Handlungsstränge der anderen Protagonisten sich kreuzen. Gegen Ende der Erzählung finden sich fast alle Figuren beim Ausbruch einer Revolte wieder, die allerdings kaum bestimmte gesellschaftliche Auswirkungen zeitigt. Franzer konstatiert dementsprechend am Schluss, nachdem er Buresch vollends von der Wirksamkeit des CPs überzeugt hat, zufrieden: »Wir leben bereits im ­Paradies! Der CP soll nur allen dabei helfen, das zu erkennen.«
Vor allem in die Figuren Wachmann und Franzer verpackt, trifft Raab durchaus satirisch die Funktion wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung bzw. Lehre, die auf alle Bereiche der Gesellschaft eine besänftigende und verschleiernde Wirkung haben soll. Wenn Franzer feststellt: »Wie die Menschen wirklich funktionieren (…) ist doch eine Sache für den Papst« und der Wissenschaftler sich in einem amourösen Verhältnis zu seiner eigenen Schöpfung befindet, dann gelingt Raab das in die Zukunft verlegte literarische Experiment einer von der Aufklärung inspirierten Sozialwissenschaft zur Bezähmung und Vereinzelung des eigenen Ichs. Ein Hauptthema des Romans, auf das schon die Lektüre Jacks hinweist ist die »Dialektik der Aufklärung«.
Die Ideen und Beobachtungen, die Raab in »Die Netzwerk-Orange« zusammenfügt, verfehlen nicht ihre kritische Wirkung. Aber brauchte es die Form einer literarischen Eutopie? Raab, der 2009 in seinem luziden und prägnanten Essay »Avantgarde-Routine« die Fortsetzung der künstlerischen Praxen der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts in der kreativen Selbstvermarktung wiedererkannte, hätte wohl mit einer weiterführenden Schrift über die Verschränkung von Wissenschaft, Kapitalismus und Kreativität eine noch treffendere Kritik verfassen können.
Albrecht und Raab haben mit ihren gebrochenen literarischen Eutopien gegenüber dem Format der klassischen Dystopie den Vorteil, dass sie nicht plump von einer möglichst grausamen und menschenverachtenden Zukunftsvision berichten, in der das an der Gegenwart Kritisierte schlicht grotesk überspitzt erfahrbar wird. Als vordergründig positiv konnotierte Orte verfügen solche Fiktionen im Moment ihres Scheiterns durchaus über eine irritierende Mehrdeutigkeit.
In der posthum erschienenen Schrift »Ästhetische Theorie« beschäftigte Theodor W. Adorno sich mit dem Doppelcharakter der Kunst und ihrem intervenierenden Potential: »Durch unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung hält sie (die neue Kunst, Anm. d. A.) diese fest inmitten des Unversöhnten, richtiges Bewusstsein einer Epoche, darin die reale Möglichkeit von Utopie – dass die Erde, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, unmittelbar das Paradies sein könnte – auf einer äußersten Spitze mit der Möglichkeit der totalen Katastrophe sich vereint.«
Es wäre übertrieben, zu behaupten, Raab und Albrecht hätten in ihren Romanen die zwiespältige Einheit einer zukünftigen gesellschaftlichen Katastrophe mit einem fiktiven Ort des menschlichen Glücks gelingend umgesetzt. Dazu bleiben die Figuren und Orte sowie die politischen und technischen Verhältnisse zu sehr an die Realität des gegenwärtigen Mitteleuropas gebunden. Sie dienen den Autoren ausschließlich dafür, den in Sprache gegossenen Milieustudien, Verweisspielen und linksliberalen kapitalismus­kritischen Projekten eine recht zahnlose kritische Kommentierung in Form einer Zukunftsschau zu verordnen. Die Zukunft ist schon längst Gegenwart, ohne dass größere Differenzen zwischen beiden sichtbar würden.
Dietmar Daths Roman »Venus siegt«, eine in die Zukunft verlagerte Geschichte vom Aufstieg und Fall der Sowjetunion, und Leif Randts Weltraumsaga »Planet Magnon« über den Konflikt zwischen dem Versorgungssystem Actual Sanity und einem im Geheimen agierenden Kollektiv der gebrochenen Herzen – beide ebenfalls von 2015 – besitzen hingegen den nötigen Schuss Zukunft, den Raab und Albrecht vermissen lassen. Bei Randt und Dath tritt, mit unterschiedlichen Sujets und Konzepten, der in die Zukunft verlagerte Konflikt zwischen Glücksverheißung und politischer Repression insofern glaubwürdig in den Vordergrund, als die Figuren mit ihren Sehnsüchten, Widersprüchen und Reflexionen innerhalb der Handlung unsatirisch ernst genommen werden. Das hat den Vorteil, dass der in der Handlung angelegte Konflikt nicht zugunsten humoristischer Pointen ausgespielt und als Platzhalter einer allgemeinen Reflexion über Wissenschaft, Kreativität und Kapitalismus verwendet wird. Es ist dieser Vorteil, der den in »Venus siegt« und »Planet Magnon« bearbeiteten Konflikt der Figuren mit einer gesellschaftlichen Entwicklung annähernd realistisch durch die utopische Form zuspitzt. Die Verbindung von Gegenwart und Zukunft erhält damit die Funktion, die gesellschaftlichen Probleme innerhalb beider Zeitebenen zwar als ähnlich strukturiert, nicht aber als entwicklungslose und zynische Schicksalserzählung kenntlich zu machen. Diese Strategie hätte »Anarchie in Ruhrstadt« und »Die Netzwerk-Orange« bestimmt gut­getan, denn ohne sie bleiben beide Romane eine kurzweilige satirische Vergnügungstour durch den zur Selbstvermarktung und Fremdbestimmung hin tendierenden Kunst- und Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart, die wohl im politischen Kabarett besser aufgehoben wäre.
Mit den Mitteln der scheiternden Eutopie im Gewand der Satire ist wenig gewonnen. Das beweist letztlich auch die Reflexion Raabs zur ­Satire am Ende seines Romans, die nicht unbedingt in einer Zukunfts­erzählung hätte stehen müssen: »In Umwelten, in denen ein Netz aus großteils geheimen Kontrakten die direkte Gewaltherrschaft verdeckt und der Kulturpessimismus boomt, wird die Satire damit zur Marke, mit der man seine Spekulationen tarnen kann. Selbst Teil der Unterhaltungsbranche, dickt der Satiriker in seinem Streben nach Einsicht deren Nebel weiter ein.«
Jörg Albrecht: Anarchie in Ruhrstadt. ­Göttingen 2014, Wallstein-Verlag,
240 Seiten, 19,90 Euro
Thomas Raab: Die Netzwerk-Orange,
Wien 2015, Verlag Luftschacht, 336 Seiten, 24,20 Euro
Dietmar Dath: Venus siegt. Berlin 2016, ­Fischer-Verlag, 512 Seiten, 9,99 Euro
Leif Randt: Planet Magnon. Köln 2015, ­Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 19,99 Euro