23.06.2016
Der jüngste Roman des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal

Ein tödliches Heilmittel

In seinem jüngsten Roman »2084. Das Ende der Welt« zeichnet der algerische Schriftsteller Boualem Sansal das düstere Bild einer Welt, in der die Religion die Macht übernommen hat.

Die Bezüge auf die Vorlage George Orwells sind rar, doch geschickt platziert. Die Sprache im fiktiven Land Abistan zwinge »zur Pflicht und zum strikten Gehorsam«, schreibt Boualem Sansal. »Ihre Konzeption ist vom Neusprech des Angsoz inspiriert. Als wir dieses Land besetzten, haben unsere damaligen Führer entdeckt, dass sein außerordentliches politisches System nicht nur auf Waffen beruhte, sondern auf der phänomenalen Macht seiner Sprache, dem Neusprech, eine im Laboratorium erfundene Sprache, die die Macht hatte, beim Sprecher Willen und Neugier auszulöschen.«
In seinem jüngsten Roman »2084. Das Ende der Welt« erzählt der ­algerische Schriftsteller Sansal von einer Welt, in der die Religion zum Mittel der allgemeinen Unterwerfung geworden ist – was die Unterwor­fenen mit unheimlicher Freude quittieren.
Die Bevölkerung Abistans verehrt den Gott Yölah und seinen Gesandten Abi. Das Regelsystem des Landes ist in einem Buch namens Gkabul zusammengefasst, zahlreiche Sittenwächter wachen über die Einhaltung der Gesetze. Öffentliche Hinrichtungen im Stadion werden von den Gläubigen frenetisch gefeiert. 2084 wird als Gründungsdatum Abistans angegeben, doch tatsächlich scheint niemand zu wissen, was vorher war und was zurzeit ist, geschweige denn, was künftig sein könnte.
Abistan ist in die Ungeschichtlichkeit zurückgesunken, das Bewusstsein ist bloßer Filter der religiösen Rituale, Individualität im emphatischen Sinne verschwunden, die Historizität des Einzelnen und der Gesellschaft getilgt, es ist der Stillstand als System, reines Sein – und nichts mehr. Die menschliche Zivilisation wurde in einem lang andauernden Heiligen Krieg zerstört.
Eines Tages trifft ein Mann namens Ati auf den Beamten Nas. Nas kann nicht nur berichten, dass es in der Großen Bruderschaft Rivalitäten gibt, er hat zudem eine seltsame Entdeckung gemacht, die die Grundfesten von Abistan erschüttern könnte. Und das wiederum erschüttert Ati zutiefst:
»Das, was ihm einst Freude ­gemacht hatte – und wovon er überzeugt war –, widerte ihn heute an: Die Nachbarn ausspionieren, den unaufmerksamen Passanten ausschimpfen, Kinder ohrfeigen, Frauen auspeitschen, sich zu einer kompakten Menge zusammendrängen und durch das Viertel ziehen, um die Inbrunst des Volkes zur Schau zu stellen, den Ordnungsdienst bei den großen Zeremonien im Stadion ­sichern, mit dem Knüppel zuschlagen, den freiwilligen Henkern bei der Ausführung der Strafen zur Hand gehen.« Denn er hatte »von der Revolte geträumt, von Freiheit«. Im Laufe der Handlung erhält Ati Einblicke in das politische Getriebe von Abistan, die für ihn und andere ­lebensbedrohliche Konsequenz haben. Denn während Ati seinen Zweifeln nachgeht, entwickelt sich eine politische Intrige ungeahnten Ausmaßes. Ati weiß nichts davon, auch nicht, dass er längst Teil von ihr geworden ist.
In der Konstruktion der Romanhandlung beweist Sansal einen Blick für politische Situationen. Ati ist ­keinesfalls ein Held, der in seinen Eigenschaften gegen die Gesellschaft stünde und sein subjektives Ideal der objektiven Stumpfheit entgegensetzte. Ati ist ein Mensch, den nichts weiter auszeichnet, als dass er von der Revolte geträumt hat und zu der Überzeugung gelangt, »dass der Mensch nur in der Revolte und durch die Revolte existiert und sich entdeckt, und dass diese nur wahr ist, wenn sie sich zuallererst gegen die Religion und ihre Truppen wendet«. Ein Gedanke, der ein großes Ärgernis in Abistan ist. Aber erst wenn der Gedanke der Revolte auf die politischen Entwicklungen im Apparat von Abistan trifft, er also zu einer wirkenden Kraft in der Welt wird, die ihre Umgestaltung zum Ziel hat – erst dann wird der Gedanke zur Wirklichkeit und erhält Dauer und Form. ­Offen bleibt, ob es in dieser Welt gelingen kann.
Handelt es sich bei dem Buch um eine literarische Dystopie? Zweifellos. Denn »2084« lässt erahnen, was eine Welt bedeuten könnte, in der verschwunden ist, was die Revolte nicht nur zum Akt einer Person, sondern zu einem Sprung der Menschheit machen würde. Welcher nie gesehenen Dinge sollte man sich bemächtigen, welche nie gekannten Genüsse erleben, wenn zwischen Yölah und dem Menschen nur Verwüstung des Geistes und der Natur herrscht?
Doch die Dystopie ist immer auch eine Verlängerung der Gegenwart, ihrer Spiegelung in eine mögliche Zukunft. Die Figuren Yölah und Abi sind das Ergebnis einer Religion, die man wohl unschwer als den Islam entziffern dürfte – vor allem sind sie geprägt von den Momenten, die den Heiligen Krieg als religiöse Haupttugend preisen. Man könnte sagen, dass bei Sansal der Sieg des Jihadismus gezeigt wird, während beispielsweise Michel Houellebecq in »Unterwerfung« die demokratische Machtergreifung des Islamismus in Frankreich als Szenario einer in Teilen auch mit dystopischen Anklängen versehenen Romanhandlung gewählt hat.
Sansal hat im vergangenen Jahr einen politischen Essay veröffentlicht, der auch in Hinblick auf »2084« von Interesse ist. Der Titel des Textes lautet »Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert« und teilt ­einiges über Sansals Einschätzung des politischen Islam und des Islamismus mit. Sansal beschreibt, wie der Islam und der Islamismus Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts an Macht und Zulauf gewannen, wie die Machtübernahme und Kontrolle der Gesellschaft in mehreren Staaten gelang, wie der Terror sich ausbreitete und wie als Fernziel »die Wiedereinführung des Kalifats unter ara­bischer Leitung und letztlich die Weltherrschaft« angestrebt wurde. Sansals Analyse ist kein Beitrag zu einer hysterischen Debatte über einen vermeintlichen »Kampf der Kulturen«, sondern bemüht sich in Kenntnis der Materie um politische Urteile. Und zu diesem Zweck ist sein Essay zu gebrauchen.
Sansal beschreibt auch, wie der Islam mit seinen neuen weltweiten Strukturen und Organisationen, der Ausbildung einer Mittelklasse (vor allem technische Intelligenz) in Widersprüche gerät, die potentiell auch mit emanzipatorischer Perspektive zu lösen wären, auch wenn derzeit kaum etwas darauf hindeutet. Die Verbindung von »Islamismus und Basarwirtschaft« in den muslimischen Staaten führe zu einer gegenseitigen Bedingtheit von Religion und Elend: »Das Elend nährt den Islamismus, dieser vermehrt das Elend und so fort.«
Der Islamismus sei erfolgreich, denn er habe »mit seinem Systemcharakter und seinem revolutionären Anspruch, seinem Rückgriff auf die radikalsten Lehren des Islam, seiner moralischen und politischen Kritik am Westen und dessen Wertesystem, seinen liberalen Wirtschaftsideen und seinem konservativen Sozialverständnis, seinen Paradies-Verheißungen und seiner permanenten Glorifizierung des Opfer- und Märtyrertums genug aufzubieten, um alle sozialen Schichten zu verführen: Arme und Reiche, Akademiker und Analphabeten, Liberale und Konservative, das bürgerliche wie das revolutionäre Lager«. Diese umfassende Ideologie und ihre möglichen Konsequenzen hat Sansal in »2084« literarisch beschrieben. Wer sich fürs ­Faktische interessiert, ist mit »Allahs Narren« besser beraten. Beiden Texten gemein ist, dass sie die Religion, den Islamismus im Speziellen, als »tödliches Heilmittel« zeigen. Sansal stellt die Frage nach Mitteln ohne solcherlei Nebenwirkung.

Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin-Verlag, Vastorf 2016, 288 Seiten, 24 Euro
Boualem Sansal: Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert. Ein Essay zur Sache. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Merlin-Verlag, Vastorf 2016, 168 Seiten, 14,95 Euro