Die mexikanische Polizei geht brutal gegen protestierende Lehrkräfte in Oaxaca vor

Bildet Blockaden

Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca wurden bei Protesten gegen die umstrittene Bildungsreform mehrere demonstrierende Lehrkräfte erschossen. Die Lehrergewerkschaft CNTE spielt, wie bereits vor zehn Jahren, nicht nur bei den Bildungsprotesten eine wichtige Rolle.

»Touristen: Oaxaca ist vorübergehend geschlossen. Wird geöffnet, sobald es Gerechtigkeit gibt«, steht an einer Hauswand in Oaxaca de Juárez, der Hauptstadt des Bundesstaats Oaxaca im Süden Mexikos. Doch nicht nur die Parolen an den Wänden erinnern an die Proteste im Jahr 2006. Im Juni vor zehn Jahren zwangen der Streik der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft CNTE und die darauffolgende Protestbewegung die Regierung des damaligen Gouverneurs, Ulises Ruiz Ortiz von der Partei PRI, für einige Wochen aus Oaxaca zu fliehen. Die Protestierenden forderten Gehaltserhöhungen, eine bessere Instandhaltung der Schulen und Gerechtigkeit in Oaxaca. Die Proteste wurden schließlich im Oktober und November 2006 von einem großen Aufgebot an Polizei und Militär niedergeschlagen, 26 Demonstrierende wurden im Verlauf der Konflikte erschossen und Verhaftete gefoltert.
Erneut sind es nun, zehn Jahre später, die Lehrerinnen und Lehrer, die an vielen Orten des Bundesstaats protestieren, diesmal gegen die 2013 verabschiedete Bildungsreform (Jungle World 43/2013). Nach Meinung der CNTE verbessert die Reform mitnichten das Bildungsniveau in Mexiko, sondern zielt auf die Prekarisierung der Lehrkräfte und die Privatisierung des Bildungssektors. Zu Gesprächen über die Reform wurde die Gewerkschaft gar nicht erst eingeladen. Seit Mitte Mai befindet sich die CNTE landesweit im Streik. Als im April und Mai führende Gewerkschafter der Sektion 22 aus Oaxaca unter anderem wegen des Verdachts auf Geldwäsche verhaftet wurden, blockierten Gewerkschafter, unterstützende Eltern und soziale Organisationen zentrale Verbindungsstraßen des Bundesstaats. Ab dem 17.Mai begannen Bundespolizisten, die über zivile und militärische Flughäfen eingeflogen werden mussten, unter Tränengaseinsatz mit der Räumung einiger Blockaden, die teilweise nach Abzug der Polizei wiederaufgebaut wurden. Bei Auseinandersetzungen in einem Distrikt von Oaxaca, der Landenge von Tehuantepec, wurde ein Journalist erschossen.
Gewaltsame Auseinandersetzungen gab es auch in Oaxaca de Juárez, dort trafen per Hubschrauber Einheiten der Bundespolizei und der Gendarmerie, die vor allem Drogenkartelle bekämpfen soll, ein. Die Situation eskalierte am 19. Juni am blockierten Abschnitt der Autobahn zwischen Mexiko-Stadt und Oaxaca bei Nochixtlán, mindestens neun Protestierende wurden getötet und über hundert Polizisten sowie Zivilisten verletzt. Die Polizei leugnete zunächst den Einsatz von Schusswaffen, musste diese Behauptung aber wegen entsprechender Videoaufnahmen revidieren. Zahlreiche Personen wurden unter dem Vorwand des unerlaubten Waffenbesitzes, des Mordversuchs und der Blockade von öffentlichen Verkehrswegen verhaftet und einige anschließend gefoltert. Mittlerweile wurden die meisten Verhafteten aus Mangel an Beweisen freigelassen.
Neben der Repression erinnern auch die Berichterstattung und die gesellschaftliche Polarisierung an die Proteste von 2006. Nicht alle Menschen in Oaxaca unterstützen die Proteste. Gerade für die wichtige Tourismusindus­trie sind sie nachteilig. In den meisten Medien werden die protestierenden Lehrkräfte als faul und korrupt beschrieben. In der Tat vergibt die Gewerkschaft nicht wenige der begehrten stadtnahen Lehrerstellen an ihre Mitglieder, Stellen und Gewerkschaftsposten werden bisweilen vererbt. Doch spielt die Sektion 22 eine tragende Rolle bei sozialen Protesten in Oaxaca, beispielsweise auch beim Widerstand gegen umstrittene Windenergieparks in der Landenge von Tehuantepec 2012/2013. In Mexiko gilt die CNTE als letzte regierungskritische Gewerkschaft. Beobachter wie der Autor Luis Hernández Navarro sehen darin den Grund für den seit Jahren harten Kurs gegen die CNTE.
Aus Protest gegen das gewaltsame Vorgehen gegen die Protestierenden am 19. Juni trat Adelfo Regino am Montag voriger Woche von seinem Posten als Minister für indigene Angelegenheiten Oaxacas zurück. Er warf dem noch amtierenden Gouverneur, Gabino Cué, vor, die Pläne seiner Vorgänger zu vollenden. Cué gehört zur »Coalición Unidos por la Paz y el Progreso« (Vereinte Koalition für den Frieden und den Fortschritt), einem gegen die Herrschaft des PRI gerichteten Bündnis der Parteien Partido Acción Nacional (PAN), Partido Convergencia (PC), Par­tido de la Revolución Democrática (PRD) und Partido del Trabajo (PT), und war mit dem Versprechen einer »demokratischen Transition« angetreten. Dass Reginos Vorwurf, den viele Beobachter teilen, berechtigt sein dürfte, zeigt sich daran, dass Cué vorrangig an Investitionen im Tourismus-, Bergbau- und Energiesektor interessiert ist und allenfalls halbherzig an der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen von 2006 oder der Förderung von indigenen Rechten.
Dass Cués designierter Nachfolger, Alejandro Murat (PRI), der bei den Kommunalwahlen am 5. Juni (Jungle World 24/2016) gewählt wurde, eine ­andere Politik gegenüber oppositionellen Bewegungen verfolgen wird, ist unwahrscheinlich. Immerhin ist sein Vater, der ehemalige Gouverneur José Murat (PRI), ein Verfechter der umstrittenen Bildungsreform. Zudem initiierte dieser den »Pakt für Mexiko«, ein 2013 geschlossenes Abkommen der drei großen Parteien PRI, PAN und PRD über Reformvorhaben vor allem im Energie-, Gesundheits- und Bildungssektor, das in vielen Bereichen Privatisierungen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit vorsieht. Beschäftigte im Gesundheitssektor, Angestellte des staatlichen Erdölkonzerns Pemex und indigene Organisationen, deren Rechte durch den »Pakt« beeinträchtigt würden, solidarisieren sich daher mit den protestierenden Lehrkräften. Am 18. Juni fand in Mexiko-Stadt eine große Demonstration mit über 14 000 Menschen gegen die Bildungsreform statt. Wie die Auseinandersetzungen weitergehen, ist unklar. Zahlreiche Blockaden bestehen weiter, in anderen Bundesstaaten, wie im südlich gelegenen Chiapas, mobilisieren die Lehrerinnen und Lehrer seit Wochen ebenfalls gegen die Reform. In Nochixtlán traf mittlerweile eine Recherchegruppe des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte ein, um die Verantwortung der Bundespolizei für die tödlichen Schüsse zu prüfen.
Nachdem sich Bundes- und Landes­regierung Forderungen der CNTE nach einem Dialog in den vergangenen ­Wochen verweigert hatten, kündigte Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong nun im Zuge der Auseinandersetzungen Gespräche mit Vertretern der CNTE an. Bildungsminister Aurelio Nuño Mayer lehnte jedoch bislang jegliche Änderung der Bildungsreform ab.
»Wir befürchten in den nächsten Tagen besonders gewalttätige Aktionen in der Hauptstadt Oaxaca de Juárez. Wir beobachten die Ankunft einer Anzahl von Einheiten der Bundespolizei und der Gendarmerie und nehmen eine erhöhte Spannung wahr«, heißt es in einer von über 80 sozialen Organisationen unterzeichneten Stellungnahme. Die Erfahrungen von 2006 geben wenig Anlass zur Hoffnung, dass der Konflikt in den kommenden Wochen gelöst wird.