Schöpferische Organisation von Raum und Zeit

Von

Es ist nicht mehr ganz so schlimm, wie es einst war. Einst meint dabei die Zeit, bevor zunächst Jürgen Klopp und nun Holger Stanislawski den vielen Gelegenheitsguckern bei großen Fußballturnieren die Grundzüge des Spiels zu erklären begannen. Doch trotz Videowand und Taktikexperten, die deutsche Unlust daran, dass beim Fußball das Hirn eingeschaltet werden muss, scheint ungebrochen. Vor allem der ehemalige Torwartrüpel und heutige TV-Experte Oliver Kahn verkörpert diesen Unwillen und ranzt immer noch die Platte von »Führung übernehmen«, »Biss zeigen« und »mentaler Stärke«. In Deutschland ist daher jeder Einspruch gegen diese Geisteshaltung, die das beautiful game als heroischen Kampf von tapferen Führern und treuen Gefolgschaften missversteht, freudig zu begrüßen.
Einen solchen Einspruch hat Tobias Escher nun formuliert. Seine, wenn man so will, Geistesgeschichte des Fußballs unter dem Titel »Vom Libero zur Doppelsechs« präsentiert das Spiel als schöpferische Organisation von Raum und Zeit, in gewisser Weise also als Kombination von Architektur und Musik. Diese Organisation wird beim Fußball aber besonders delikat und komplex dadurch, dass sich zwei Konzeptionen über die Dauer einer Partie im Widerstreit miteinander befinden, dass der Erfolg der einen den Misserfolg der anderen bezweckt. Unterhaltsam zu schildern, wie genau dieser ewige Widerstreit bis heute Strategien und Gegenstrategien hervorgebracht hat, war bislang englischen Autoren wie Jonathan Wilson vorbehalten. In diese Fußstapfen tritt nun der 11 Freunde-Autor Tobias Escher und kann dem Vergleich dabei durchaus standhalten. Dem deutschen Leser bietet Escher darüber hinaus den Vorteil, dass er Fußballgeschichte auch als Mentalitätsgeschichte erzählt und damit zu erklären hilft, warum der deutsche Durchschnittsglotzer sich immer noch mit einem wie Kahn identifiziert.

Tobias Escher: Vom Libero zur Doppelsechs. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2016, 303 Seiten, 12,99 Euro