Der IS und die Psychopathologie des Spätkapitalimus

Etwas Großes tun

Nicht alle jihadistischen Attentäter treten im islamistischen Milieu in Erscheinung, die Anfänge ihrer konformistischen Rebellion sind für den Überwachungsstaat schwer aufzuspüren.

Die meisten Eltern wären wohl erfreut, wenn ihr Sohn mit dem Kiffen aufhört, freiwillig früh aufsteht, gern ins Fitnessstudio geht, ernsthafter wirkt und den Wunsch äußert, Ingenieur zu werden. So aber können die Anzeichen der »Radikalisierung« aussehen, die ihn binnen weniger Monate zu einem Massenmörder werden lassen. Der Besuch einer salafistischen Moschee kann hinzukommen, muss es aber nicht. Nur wer zum Jihad nach Syrien reisen will, muss Kontakte knüpfen. Wer hingegen als Einzeltäter den Aufrufen des »Islamischen Staats« (IS) folgen will, findet alles Nötige im Internet.
Nicht wenige der auf diese Weise Rekrutierten sind Psychopathen (nicht zu verwechseln mit psychisch Kranken), für die der IS eine willkommene Rechtfertigung und dessen Nachruhm versprechende Prominenz in den Medien ein trigger ist. Gäbe es den IS nicht, hätten sie vielleicht nie gemordet, vielleicht ein anderes Verbrechen begangen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in manchen Fällen, wie dem Mohamed Lahouaiej-Bouhlels, des Attentäters von Nizza (siehe Seite 13), zunächst unklar war, ob es eine Verbindung zum IS gab. Ein Zufall ist die Anziehungskraft des Jihadismus jedoch nicht, denn die meisten Serien- und Massenmörder sind Rechtsextremisten, die zu eigenbrötlerisch sind, um sich einer Gruppe anzuschließen.
Wie keine Organisation zuvor hat es der IS geschafft, global in diesem Milieu zu rekrutieren. Damit gelingt es in vielen Fällen auch, den Überwachungsstaat auszutricksen, der dieser Form der konformistischen Rebellion hilflos gegenübersteht. Mit dem Vorgehen gegen Hassprediger und ihre einschlägigen Moscheen kann nur ein Teil des Phänomens erfasst werden, bei der Suche nach Einzeltätern lässt sich anfangs kaum unterscheiden, ob ein zuvor aufsässiger, oft kleinkrimineller junger Mann sich nun fit für den Markt oder das Selbstmordattentat macht.
Auch das ist kein Zufall. So ist die Forderung, man müsse mehr für die Prekarisierten in den Armenvierteln tun, zwar richtig, mit dem Kampf gegen den Jihadismus sollte sie aber nicht in Verbindung gebracht werden. Denn dies bedient nicht nur den Mythos von den »gefährlichen Armen«, die befriedet oder, wenn Sozialmaßnahmen nicht greifen, bekämpft werden müssen, es geht auch am Problem vorbei. Wer mehr Geld will, sollte mehr Geld fordern, kann aber auch versuchen, es sich illegal zu beschaffen. Wer seine Religion wiederentdecken will, hat dazu reichlich Optionen jenseits des Massenmords.
Was Jihadisten antreibt, ist der Wille, »etwas Großes« zu tun, eine Spur zu hinterlassen und in Erinnerung zu bleiben – eine Umdeutung der Wettbewerbsideologie des »Aufstiegs« und somit eine Ausdrucksform der Psychopathologie des Spätkapitalismus. An der Dominanz der Wettbewerbsideologie auch im Bewusstsein der Prekarisierten wird sich so schnell nichts ändern, auf die Verbreitung von Klassenbewusstsein oder auch nur der schlichten Erkenntnis, dass man leben kann, ohne zu den »Großen« gehören zu wollen, wird man bei der Terrorbekämpfung nicht warten wollen. Für das Vorgehen gegen potentielle Attentäter wären Profiler, die nach pathologischen Verhaltensweisen suchen, wohl nützlicher als Prediger der Mäßigung, deren Bemühungen an den tatsächlichen Interessen der Verdächtigen vorbeigehen. Und die Eliminierung des IS-»Kalifats« würde zwar den islamistischen Terror nicht stoppen, aber einen wichtigen trigger beseitigen.