Der US-amerikansiche Journalist Ben Ratliff hat ein Buch über Musik und Algorithmen geschrieben

Hör zu!

James Brown und Arvo Pärt auf einer Playlist? Den hehren Ansprüchen des US-amerikanischen Journalisten Ben Ratliff folgend, könnte das demnächst häufiger passieren.

»Ich will nicht mit Künstlern auftreten, die etwas Ähnliches wie ich machen«, sagte der britische Experimentalmusiker Lukas Younger alias Helm unlängst in einem Interview mit dem Fader-Magazin. »Ich will mit allen möglichen verdammten Leuten spielen!« Das Publikum müsse herausgefordert werden, verlangte Younger, Konzertveranstalter verhielten sich konservativ.
Und bestätigen doch nur Gewohnheiten, möchte man hinzufügen, die sich über Jahre verfestigt haben. Denn Musik ist die Kunstform, deren Aneignung seit der Jahrtausendwende an Reibung eingebüßt und an Auseinandersetzungsfreude verloren hat. Online-Dienste wie Spotify, Pandora oder Echo Nest sammeln Daten über das Hörverhalten ihrer Benutzer – und Algorithmen sorgen dafür, dass ein ums andere Mal ein gemischter Leibspeisenteller empfohlen wird. Kein Wunder, dass die Einführung von Apples Radiosender Beats 1 für Aufmerksamkeit sorgte: ein Musikprogramm, zusammen­gestellt von echten Menschen! Die Wahrscheinlichkeit, Arvo Pärt, Pauline Oliveros und Steely Dan an einem Nachmittag zu hören, erhöhte sich dadurch nicht unbedingt.
Die Situation ist paradox: Den Hörern steht heute mehr Musik denn je zur Verfügung. Aus allen Epochen und Stilrichtungen, fast überall und zu jeder Zeit. Allein, mit dem Überfluss umzugehen wisse kaum jemand, meint Ben Ratliff. Vielmehr grüben die meisten Hörer zwar tief, aber auch sehr eng, stellt der US-amerikanische Musikjournalist fest. Und sie begäben sich, häufig von mathematischen Formeln angeleitet, in die immergleichen Komfortzonen.
Verteufeln will Ratliff in seinem Buch »Every Song Ever« die Algorithmen keinesfalls, er argumentiert nicht aus der Perspektive des Kulturpessimisten. Als wolle er der technischen Entwicklung nur eine Nasenlänge voraus sein, schreibt er: »Wir können wenigstens versuchen, besser hinzuhören, als uns zugehört wird.«
Einer seiner methodischen Ausgangspunkte ist die Schrift »What to Listen for in Music« von Aaron Copland. Vor dem Hintergrund der Werke Bachs und Beethovens arbeitete der US-amerikanische Komponist Ende der dreißiger Jahre an Kriterien eines umfassenden Musikverständnisses. Harmonie, Melodie, Klangfarbe und andere rein musikalische Parameter standen damals im Fokus eines korrekten Hörens, mit dem ein allgemeingültiges Verständnis einherging, wie Instrumente gespielt werden müssten: Eine Oboe ist eine Oboe und klingt bestenfalls – in den Händen des studierten Musikers – eben auch wie eine. Diese Verbindlichkeiten seien spätestens in den siebziger Jahren brüchig geworden, schreibt Ratliff. Tatsächlich ­haben technische Neuerungen und ein künstlerisches Umdenken dazu geführt, dass man sich mit Fug und Recht fragen kann: Wem zur Hölle höre ich gerade zu? Einem Menschen? Einer Maschine? Und versteckt sich hinter dem verdächtigen Vibrato der Oboe nicht doch ein gesampeltes Cello?
Angesichts dieser Desorientierung und den hinzugewonnenen Freiheiten des Hörens schlägt Ratliff Elemente vor, auf die man hören könnte – und die sinnhafte Verbindungen zwischen eigentlich sehr unterschiedlichen Musikstilen und Ursprüngen herstellen. Dass »Every Song Ever« ein Plädoyer ist für Offenheit, Neugierde und vor allem einen assoziativen Umgang mit der Musikgeschichte, daran lässt der Autor in keinem seiner 20 bisweilen sehr unterhaltsamen Essays Zweifel. Äußerst kenntnisreich schlägt er Haken und stellt »Twenty Ways to Listen in an Age of Musical Plenty« vor.
Es geht um naheliegende Themen wie Wiederholung, Improvisation und Geschwindigkeit. Im mit »Draft Me!: Speed« überschriebenen Kapitel hangelt sich Ratliff mühelos vom ultraschnellen Blast Beat, den er während eines Konzerts von D.R.I. im New Yorker Punkschuppen CBGB gehört hat, hin zu Domenico Scarlattis Cembalo-Sonate in b-Moll, K. 27, um dann über den HipHop von Tech N9ne bei Big Boi und Outkast zu landen. In einem weiteren Essay thematisiert er zunächst den Gefühlsausdruck im Gesang John Lennons, zeichnet daraufhin in aller Kürze die Diskussion zwischen Formalisten und Expressionisten nach, um schließlich das Timbre des Bassbariton-Sängers Andy Bey zu beschreiben.
Ein weiteres bedeutsames Element sei der Umgang mit Stille und Intimität. Ratliff schreibt über die Kraft der Pausen, die James Hetfield von Metallica ebenso zu nutzen wisse wie bereits Eric Satie – dessen Walzer »Serenade no. 1« dermaßen von Unterbrechungen durchzogen ist, dass man seinen Dreiertakt kaum bemerke. John Cages »4’33’’ wird selbstverständlich nicht ausgespart, aber eben auch Morton Feldman erwähnt, ein durchaus seltener erwähnter Komponist der »New York School of Music«. Sein Stück »For Bunita Marcus« bestehe zu gleich großen Teilen aus verklingenden und klingenden Tönen, schreibt Ratliff und gelangt bald zu Chet Baker und ausgestellter Intimität.
Das Klavierspiel Art Tatums sei mit dem Gesang von Sarah Vaughn zu vergleichen – in puncto Virtuosität nämlich, noch so ein Element Ratliffs, auf das der Hörer genauer achten sollte. Wie? Man konzentriere sich auf das Vibrato in ihrer Stimme, die Art, wie sie Worte dehnt und ihre Stimme in unnatürliche Tiefen hinabsinken lässt. Ein Spiel mit der Stimme, das durch die Banalität ihrer Texte zusätzlich gerechtfertigt werde.
In Hinblick auf ein weiteres Element, Traurigkeit, nimmt Ratliff einen Umweg über Nick Drake. Jung gestorben wurde er zu einer mythischen Figur, seine Musik so roman­tisierend wie naheliegend als geronnene Enttäuschung und Sehnsucht danach, zu verschwinden, interpretiert. Und gelangt dann zu »The Hero and the Blues« von Albert Murray, der den Blues nicht als Akt der Verzweiflung, sondern des Trotzes, Überlebenswillens und gelernten Könnens deutet. Vom Blatt ließe sich diese Musik niemals richtig spielen, weil die Notation nicht genüge, all die Bendings und Zwischentöne auszudrücken.
Schleppend geht die Lektüre von »Every Song Ever« voran, was vielleicht das größte Kompliment ist, das man dem Autor machen kann. Denn man will das alles hören, von dem Ratliff so leidenschaftlich schreibt und wofür er plausibel – bei allem unvermeidbaren Eklektizismus – ar­gumentiert. Die Anspieltipps am Ende eines jeden Kapitels dürften die meisten seiner Leser an Orte der Musikgeschichte führen, die sie nie zuvor besucht haben. Mit Freude bringt der Autor zusammen, was vormals sorgsam voneinander getrennt wurde, und wirbelt schließlich durcheinander, was die Bescheidwisser der Musikgeschichte nach ihren Regeln angeordnet hatten.
Die Karten könnten also neu gemischt werden – wäre da nicht der gemeine Hörer, dem Ratliff abverlangt, was dieser gerade zu vermeiden sucht: sich ernsthaft für Musik zu interessieren, Mühe zu investieren und gewissermaßen zu einem musikalischen Allesfresser zu werden. In diesem Sinne ist Ratliffs Ansinnen wunderbar aus der Zeit gefallen.
Ben Ratliff: Every Song Ever. Twenty Ways to Listen in an Age of Musical Plenty. ­Farrar Straus & Giroux, New York 2016, 272 Seiten, 20,68 Euro