Die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge

Zu jung für die Abschiebung

Nach dem Anschlag von Würzburg gibt es eine öffentliche Diskussion über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ein Fachverband sagt, entgegen immer lauter werdender Forderungen sei nicht weniger, sondern mehr Hilfe für diese Gruppe nötig.

»Wir können nicht wahrnehmen, dass unbegleitete minderjährige Flücht­linge besonders anfällig für Radikalisierung sind. Die Tat in Würzburg erzeugt auch bei vielen jungen Flüchtlingen in Deutschland Ängste«, hieß es in einer Pressemitteilung des Bundesfachverbands Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (BUMF) nach dem Anschlag von vergangener Woche, der im Namen des »Islamischen Staats« (IS) von einem jungen Mann begangen wurde, der möglicherweise als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Es seien »nicht weniger, sondern mehr Hilfen« für junge Asylsuchende nötig. Zwar gebe es »keinen absoluten Schutz vor Radikalisierung«, aber die Gefahren könnten reduziert werden, indem man »den Minderjährigen eine echte Chance« gebe und ihnen »nachhaltige Perspektiven« verschaffe.
Mehr als ein Drittel der über den Seeweg nach Europa geflüchteten Menschen sind dem UN-Kinderhilfswerk Unicef zufolge Kinder und Jugendliche. Ebenso wie die Erwachsenen sitzen viele junge Flüchtlinge in Bürgerkriegs- oder Transitländern fest oder warten in EU-Außenstaaten wie Griechenland unter katastrophalen Bedingungen ­darauf, dass das Versprechen, sie europaweit zu verteilen, eingelöst wird. Nach Deutschland gelangten 2015 schätzungsweise mehr als 300 000 minderjährige Flüchtlinge, in der Regel zusammen mit ihren Eltern. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen kommt ohne Erziehungsberechtigte. 2015 waren das zwischen 30 000 und 50 000, dieses Jahr ist die Zahl bislang weitaus geringer. Wie auch deutsche Kinder und Jugendliche, deren Eltern beispielsweise gestorben sind, werden die unbeglei­teten minderjährigen Flüchtlinge von den Jugendämtern in Obhut genommen. Ihre sozialrechtliche Gleichstellung bedeutet im Vergleich zu voll­jährigen Asylsuchenden erheblich mehr Schutz, Teilhabe, gesundheitliche Versorgung und Zugang zu Bildung.
Seit dem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen im vergangenen Sommer gebe es allerdings ein »massives Infrastrukturproblem«, sagt Niels Espenhorst vom Bundesfachverband BUMF im Gespräch mit der Jungle World. Zwar unterscheide sich der Umgang mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen je nach Bundesland, Kommune und Unterkunft mitunter stark, doch ähnlich wie bei den Erwachsenen seien auch für die jungen Flüchtlinge zahlreiche Provisorien entstanden, die sich vielerorts zu verstetigen drohten. So gebe es immer noch nicht überall ausreichend Betreuungsplätze und Vormünder für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, weshalb diese zum Teil immer noch in Turnhallen, Großunterkünften oder in Hostels mit lediglich ambulanter Betreuung untergebracht sind.
Auch der Zugang zu Bildung sei für die jungen Flüchtlinge oft eingeschränkt, sagt Espenhorst. Für Kinder und Jugendliche in den Erstaufnahmeeinrichtungen gebe es meist keinen Anspruch auf einen Regelschulplatz. Besonders hart treffe dies Personen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern. So stehe etwa den in den Sonderunterkünften Bamberg und Manching untergebrachten Flüchtlingen nur für wenige Stunden wöchentlich Ersatzunterricht zu, der vor allem Bastelkurse und rudimentären Englisch-, aber keinen Deutschunterricht beinhalte. Auch die unbegleiteten ­Minderjährigen in Obhut des Jugendamtes hätten wegen fehlender Schulplätze zum Teil keinen oder nur erheblich verzögerten Zugang zur Regelschule. Hinzu kommen die Landesschulgesetze, die eine Schulpflicht nur bis 16 oder 18 Jahre festsetzen. »Wer älter ist, hat oft keine Chance auf einen Schulabschluss«, kritisiert Espenhorst. »Die Bildungssituation der 16- bis 25jährigen ist lange vergessen worden. Für die jungen Flüchtlinge bedeutet dies: viel verlorene Zeit und äußerst schlechte Berufsperspektiven. Teils hat man versucht nachzubessern, doch die Strukturen sind überhaupt nicht flächendeckend und ausreichend, zum Teil auch gar nicht existent.«
Zudem drohe in manchen Bundesländern wie Bayern ein abrupter Abbruch der Hilfe, sobald die Flüchtlinge volljährig sind – und damit das Ende der Jugendhilfe, der Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende sowie weiterer Verlust von sozialen Kontakten, da vielfach die Vormundschaft mit dem 18. Geburtstag endet. Schlimmstenfalls führe das Er­reichen der Volljährigkeit dazu, dass der Betroffene von einem Tag auf den anderen ausreisen müsse.
Dass sehr viele junge Flüchtlinge versuchen, der Ende 2015 eingeführten bundesweiten Verteilung nach Quote durch Ausreißen zu entgehen, findet Espenhorst nicht verwunderlich. Viele würden zu Bezugspersonen an anderen Orten weiterreisen oder verließen den ihnen zugewiesenen Ort wegen Erfahrungen mit Rassismus oder wegen der schlechten Versorgung und Betreuung in den Einrichtungen. Auch Unicef Deutschland hält es in einem jüngst veröffentlichten Bericht für wahrscheinlich, dass darin ein wichtiger Grund für das medial immer wieder skandalisierte »Verschwinden der Flüchtlingskinder« liegt. Dabei sei nicht auszuschließen, dass die sich allein durchschlagenden Jugendlichen in Gefährdungs- und Ausbeutungssituationen gerieten, vor allem wenn noch Zahlungen an Schlepper ausstünden, die möglicherweise Druck auf die Familie der Minderjährigen ausübten, so Espenhorst. Grundsätzlich müsse dringend dafür gesorgt werden, dass die Minderjährigen an ihre persönlichen Zielorte kommen. Auch für die Betreuungseinrichtungen sei es äußerst schwierig, die Kinder und Jugendlichen dazu zu animieren, lokale Unterstützungsan­gebote anzunehmen, wenn diese die ihnen zugewiesenen Orte ablehnten. Vorrangiges Ziel müssten die schnellstmögliche Stabilisierung und der Beziehungsaufbau für die Kinder und Jugendlichen sein – und nicht die strikte Verteilung nach Quote.
Auch bei den Altersfestsetzungen durch die Behörden kritisieren Experten eine mangelnde Orientierung am konkreten Unterstützungsbedarf der Kinder und Jugendlichen. Anhand des Alters wird entschieden, ob die Flüchtlinge vom Jugendamt in Obhut genommen werden oder ob sie lediglich sehr geringe Leistungen auf Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten. Die Altersfestsetzungen sind in den vergangenen Jahren vor allem kritsiert worden, weil dabei neben den vorran­gigen Gesprächen auch wissenschaftlich umstrittene und ethisch fragwürdige Methoden wie das Röntgen von Handwurzelknochen oder die Begutachtung der Genitalien eingesetzt wurden. Ohnehin wird die Zuverlässigkeit von medizinischen Altersfestsetzungen von Fachleuten angezweifelt. Gerade bei Jugendlichen in der Pubertät sei es nahezu unmöglich, das exakte biologische Alter herauszufinden, da die Angaben lediglich Näherungswerte mit erheblichen Schwankungen darstellen, heißt es etwa in einem 2014 im Deutschen Ärzteblatt erschienenen Fachartikel.
Durch das Anfang Juli vom Bundestag beschlossene Integrationsgesetz wird die Diskriminierung der Flüchtlinge nach ­Herkunftsland weiter verstärkt. Keine Chance auf eine zügige Ausbildungs­förderung haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, denen eine »schlechte Bleibeperspektive« zugeschrieben wird – weil sie etwa aus ­Serbien kommen und nicht aus dem Irak, aus Syrien oder Eritrea. »Durch derartige Zurückweisungsmomente entsteht viel Wut und Frustration bei den Jugendlichen«, sagt Niels Espenhorst der Jungle World. »Gleichzeitig bedeutet diese Entrechtung auch die Zerstörung von Bildungserfolgen.«
Das Gesetz beinhaltet zwar eine Verbesserung der Rechtssicherheit für den Aufenthalt während der Ausbildung, doch Personen aus »sicheren Herkunftsländern« erhalten weiterhin keine Duldung zu Ausbildungszwecken. Selbst Personen, die bereits eine Ausbildung absolviert haben und sich in qualifizierter Beschäftigung befinden, sollen ihre Aufenthaltserlaubnis wieder verlieren, wenn sie zusammengerechnet zu 50 Tagessätzen verurteilt wurden. Der BUMF kritisiert dies als »unverhältnismäßig«, da so Ordnungswidrigkeiten wie mehrfaches Fahren ohne gültigen Fahrausweis oder andere kumulierte Kleinstdelikte zur Abschiebung von ansonsten gut integrierten jungen Menschen führen würden.
Es werde, so Unicef, in Gesetzesvorhaben und politischen Debatten teilweise »der Ruf lauter, junge Flüchtlinge aus Kostengründen generell aus ­Jugendhilfemaßnahmen herauszunehmen oder diese zu kürzen«. Diese Entwicklung beobachtet auch Espenhorst vom BUMF. Derartiger Forderungen seien angesichts der besonderen Unterstützungsbedarfe der jungen Flüchtlinge »absurd«.