Über Bernstein lässt sich viel erfahren

Unsere Wohnung in Kreuzberg ist so aufgeheizt, dass wir uns etwas überlegen müssen. Kurzentschlossen fahren meine Freundin und ich für ein paar Tage an die Ostsee. Weil alles andere ausgebucht ist, kommen wir in einem Hotel für Vegetarier unter. In der umgebauten VEB-LPG-Jugendherberge tummeln sich Rentner und Familien. Tätowierte Veganer können sich das hier nicht leisten. Das Frühstück ist Standard, es fehlt nur die Wurst.
Am ersten Tag besorgen wir uns Fahrräder und erkunden die Gegend. Die Räder sind top, das Fahren bringt Spaß. So eins würde mir in Kreuzberg sofort geklaut werden. Auch der Strand ist sehr schön: Weißer Sand, strahlend blauer Himmel und das Wasser ist seicht, ideal für Kinder. Aber plötzlich ist auch mehr als deutlich, wo wir uns befinden: unter Deutschen. Genauer gesagt, unter Biodeutschen. Kein Mensch mit ­Migrationshintergrund weit und breit. Und keine Freaks und Sonderlinge. Es ist einfach zu teuer hier. Und zu öde. Aber es ist auch nicht Sylt. Hier protzt niemand mit Geld, die Menschen sind bescheiden und bieder. Der ganze Ort wirkt wie eine Kulisse, wie drangeklebt an alte DDR-Fassaden.
Erleichtert entdecke ich im Zigarettenladen zumindest ein junges Paar vom Typ Berlin-Mitte-Spanier. Sie im Hippiekleid und er mit langem Hipstervollbart. Wenigstens haben die es jetzt auch schon an die Ostsee geschafft. Aber wahrscheinlich arbeiten sie nur als Saisonarbeiter in einem der Hotels.
Auf dem Deich treffen wir auf eine fahrradbehelmte Armee in praktischen Jacken und wir folgen ihr durch den Wald bis zum Leuchtturm. Überall gestresst wirkende Familien, die in ihre Parallelwelten versunken sind. Als wir den Leuchtturm besteigen, fängt es plötzlich an zu regnen. Alle flüchten ins angrenzende Museum. Wir erfahren viel über Bernstein. Die Kinder fangen an zu quengeln, endlich ist Platz im Café. Alle Leute sind freundlich und nett, aber die Atmosphäre ist doch befremdlich. Gerade weil sich die Menschen unter ihresgleichen wähnen und sich deshalb so wohlzufühlen scheinen. Sie machen Urlaub in einem Deutschland, das es gar nicht gibt. Eine kleine Gruppe Schüler kommt herein, einige mit offensichtlich migrantischem Background. Sie sind demonstrativ falsch gekleidet. Und klatschnass.