Das Avantgardelabel Raster-Noton feiert Geburtstag

Restrisiko der Überforderung

Vor 20 Jahren wurde in Chemnitz das Avantgarde-Label Raster-Noton gegründet. Bis heute ist die kompromisslose Attitüde einzigartig.

Getanzt wird drüben, in der riesigen Jahrhunderthalle, zu den Beats und Melodien von Moderat oder den Peaches. Hier, in der wesentlich kleineren, aber immer noch sehr luftigen Turbinenhalle ist das Publikum etwas mehr gefordert und mitunter: überfordert – was allerdings weniger an den zahlreichen technischen Bugs liegt, die das Programm stören. Es ist die kompromisslose Avantgardehaltung des Chemnitzer Labels Raster-Noton und seiner Künstler, die fasziniert und verwirrt. Noise-Attacken wechseln mit Rauschen, kaum variierte rhythmische Patterns mit kontemplativen Soundscapes bis hin zum Sinuston. Experimentelle Elektronik zwischen Techno, Ambient oder Noise, kurz: Clicks & Cuts.
Die Kuratoren der diesjährigen Ruhrtriennale haben das Label passend zu dessen 20jährigen Jubiläum eingeladen. Neben den Labelgründern Olaf Bender (aka Byetone) und Carsten Nicolai (aka Alva Noto) treten auch Kangding Ray und Grischa Lichtenberger beim Elektro-Spektakel Ritournelle auf. Außerdem gibt das Duo Emptyset, die ebenfalls bei Raster-Noton unter der Vertrag stehen, eine Performance im Rahmen der Reihe »Konzerte im Maschinenhaus«.
»Archiv für Ton und Nichtton«, so beschreiben die Macher nüchtern ihr Label, bei dem sie als Kuratoren, Produzenten, Designer und Musiker tätig sind. 1996 wurde Raster-Noton in Chemnitz gegründet. Doch die Ursprünge gehen bereits auf die Zeit vor dem Zusammenbruch der DDR im damaligen Karl-Marx-Stadt zurück. Bands wie AG Geige oder das Kassettenlabel Klangfarbe tauchten damals in der dortigen Szene auf. Sie fanden zunächst eine Heimat bei Rastermusic, aus dem später Raster-Noton hervorging.
Im Programm der Ruhrtriennale steht das Klangkollektiv neben Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez oder Mauricio Kagel, die in den fünfziger und sechziger Jahren im Kölner »Studio für elektronische Musik« Pionierarbeit auf dem Gebiet leisteten. »Aus dramaturgischer Sicht ist das sicher nachvollziehbar«, sagt Olaf Bender, allerdings seien die genannten Namen längst etabliert und nicht mehr wirklich zur Avantgarde zu zählen – wenngleich er ­zugeben muss, dass es »unser Label ohne deren Vorarbeiten vermutlich nicht geben würde«.
Andere Querverweise für Raster-Noton sind etwa Krautrock als Vorläufer von Techno und Kraftwerks »Mensch-Maschine« als dessen kommerzieller Ableger. Raster-Noton beziehen sich dagegen lieber auf die Kölner Gruppe Can – weniger aus musikalischer als vielmehr aus konzeptioneller Sicht. »Can passten in kein Raster und haben nicht geschaut, was links und rechts von ihnen passiert«, so Bender. Eine konsequente Haltung, die auch für ihn heute noch gilt.
Und hier schließt sich zumindest ein kleiner Kreis. Die Can-Musiker Holger Czukay und Irmin Schmidt haben Anfang der sechziger Jahre bei Stockhausen studiert und sich erst später, als am Ende des Jahrzehnts der musikalische und künstlerische Aufbruch dem politischen folgte, an Gruppen wie Velvet Underground orientiert – weil die, so Czukay, ihre ­Instrumente wie Schweine gespielt hätten. Free your mind: Raus aus der Akademie, rein ins Studio und wieder raus auf die Straße.
Bender, Nicolai und Bretschneider gingen einen anderen Weg. Keine Akademie und auch kein Bruch mit derselben. Früh haben sie mit Tonbändern experimentiert, um Soundmöglichkeiten auszuloten. Teure Modularysteme könnten sich nur wenige leisten. Später probierten sie an den ersten Computern herum, entdeckten Sounds und entwickelten sie weiter: nun digital statt analog.
Der alltägliche Mangel in der DDR kam der künstlerischen Entwicklung ebenfalls zugute. Spezialistentum war nur den etablierten Künstlern möglich. Wer nicht vom Staat gefördert wurde, musste sich in allen erdenklichen, unterschiedlichen Disziplinen versuchen. »Wir konnten uns nie nur auf Musik einlassen und haben deshalb gleichzeitig mit Film, Fotografie, Graphik, bildender Kunst und Malerei experimentiert«, sagt Bender. Daneben hätten er und seine Freunde sich auch für Musikformen interessiert, die nicht unbedingt oben auf der Wunschliste standen, wie etwa Free Jazz, der in der DDR zwischen Rebellion und Institution existierte. Auch hier war es eher die Arbeitsweise und weniger die Musik, die nachwirkte.
Raster-Noton haben sich über die Jahre zu einer Art künstlerischen Plattform entwickelt. Die Veröffentlichungen waren ursprünglich sehr streng angelegt: Musik, Graphik, Design und Marketing folgten einer ästhetischen Grundhaltung, die durchaus dem Kunstverständnis des Sozialismus entlehnt ist. Mittlerweile sind die Vorgaben zugunsten der Künstler gelockert worden, ohne die ästhetischen Wurzeln zu verleugnen. Olaf Bender nennt das Bauhaus und die Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts als Einflüsse. Der Verweis auf Künstlergruppen wie »Der Blaue Reiter« liegt dabei ebenso nahe, wie Anleihen bei den Dadaisten, Futuristen oder Situationisten.
Gerade die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts versuchte die beinahe als natürlich geltende Trennung von Kunst und Leben aufzuheben. Nicht mehr Einzelkünstler sollten im Mittelpunkt stehen, avantgardistische Kunst sollte in Gruppenstrukturen auftreten und als Kollektiv wahrgenommen werden – ohne dabei allerdings den individuellen Charakter der Person zu nivellieren, im Gegenteil: Sie musste erkennbar bleiben.
Immerhin 57 Acts haben mittlerweile auf dem Label veröffentlicht. CDs, DVD und Vinyl erscheinen oft in kleinen Auflagen, häufig limitiert. Es gibt Serien und Zyklen. Verkauft wird über einen eigenen Online-Shop. Zum 20jährigen Jubiläum des Labels wird demnächst auch ein Buch erscheinen – aufgeteilt in Retrospektive und aktuelle künstlerische Arbeiten. Dazu gehen sie mit »White Circle« auf Tour. Dahinter verbirgt sich ein akustisch-architektonischer Raum, entworfen und gestaltet als audiovisuelle Installation. Alva Noto, Frank Bretschneider, Byetone und Kangding Ray haben dazu jeweils eine exklusive Komposition beigesteuert.
»Wir wollen, dass die Zuhörer sich mit unserer Kunst aktiv befassen«, so Bender. Er sagt auch heute noch bewusst Kunst und nicht Musik, um den universellen Charakter zu verdeutlichen. Das Restrisiko der Überforderung bleibt natürlich, spielt aber in den Überlegungen im künstlerischen Prozess keine wirkliche Rolle. Raster-Noton setzen dabei vor allem auf Entschleunigung und langfristige Konzepte und nicht auf kurzfristige Hypes. Verkaufszahlen und Vermarktbarkeit sind dabei eher zweitrangig.
Die persönliche Integrität und die Offenheit des Labels war auch für Grischa Lichtenberger ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Der 33jährige veröffentlicht dort seit 2009 seine Musik: »Treibgut« oder »And IV« heißen die Titel. Der Weg zu Raster-Noton war dabei ein zufälliger. Nach 2000 hatte Lichtenberger einige Stücke auf der Online-Plattform My­space veröffentlich, auf der Künstler wie Autechre gleichberechtigt neben anderen, völlig unbekannten Musikern auftauchten. Carsten Nicolai hatte die Aufnahmen jedenfalls gehört, für gut befunden und ihn sofort aufgefordert, Demos zu schicken. Ein Jahr später trat Lichtenberger mit dem Label bereits in der Deutschen Akademie in der Villa Massimo in Rom auf.
Für Lichtenberger steht das »Unwesentliche in der Musik« im Vordergrund, denn: »Mittlerweile hat man sich an die Dimension elektronischer Klangerzeugung gewöhnt. Die anfängliche Euphorie gegenüber dieser fremden und offenen Welt ist einer Moral des richtigen Weges gewichen. Für jeden Fall wird einem quasi ein Königsweg vorgegeben, wie man angeblich ›richtig‹ produziert.« Sachen, die im Hintergrund passieren, die oftmals nicht wahrgenommen werden, »die man mit Hilfe von Kompressoren nach oben pumpen kann«, seien wesentlich interessanter: Hintergrundrauschen, Kratzen, Vibrieren, subtile Verzerrungen oder unsaubere Filter.
Lichtenbergers Eltern waren Beuys-Schüler, er selbst wollte ebenfalls in den Kunstbetrieb. 2006 hatte er sich an der Kunstakademie in Düsseldorf beworben und wurde abgelehnt. Letztlich eine Befreiung: Er musste als Autodidakt andere Wege gehen als seine Zeitgenossen auf der Hochschule. Der Dilettantismus des Punk war prägend. Schon als Jugendlicher spielte er Grunge und entwickelte dazu eine Kunstsprache.
Vor allem die Möglichkeit der Aufnahme von Musik hat ihn dabei fasziniert: Erschwingliches Equipment, das man zu Hause haben konnte, für das man kein professionelles Tonstudio brauchte, durch das man aber gleichzeitig eine enorme Bandbreite an Klangmanipulations- und Montagemöglichkeiten gewann, hat die Musikproduktion demokratisiert.
Durch die erschwingliche Aufnahmetechnik hatten plötzlich nicht mehr nur Virtuosen die Möglichkeit, ihre Musik zu reproduzieren und zu variieren. Oder wie es Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« ausdrückt: »Die Reproduktionstechnik (…) löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.«
Eine Option, der sich Lichtenberger in seinem aktuellen Projekt zugleich annähert und entsagt in Form von drei EPs mit den Titeln »Spielraum«, »Allgegenwart« und »Strahlung«. Sie sollen als limitierte Vinyl-Edition mit einem handgearbeitetem Siebdruck als Cover Ende dieses Jahres erscheinen. In ihnen möchte er das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit in Relation zu den technischen Utopien des 20. Jahrhunderts stellen. Die Musik ist fast in Echtzeit entstanden, skizzenhafte Reflexionen über die Begriffe und ihre sich ständig ändernden Bedeutungen – eine Dialektik des Fortschritts vielleicht, aber für Lichtenberger auch eine reflexive Infragestellung der eigenen Produktion und ihrer historischen Verbindlichkeiten.
Auch Emptyset fügen sich hier ein: Das Duo aus Bristol durfte in der Essener Zeche Carl den Abschluss des Raster-Noton-Programms auf der Ruhr-triennale gestalten. Paul Purgas und James Ginzburg verfolgen einen sehr disiziplinierten Ansatz. Ihnen geht es darum, auch beim Sound mit Form, Material und Struktur zu arbeiten – so wie es in anderen Kunstformen üblich ist.
Ein kurzes Set in einer Länge von 30 Minuten, in dem die Sounds eigens dafür entwickelter Elektroins­trumente durch analoge Kompressoren gejagt werden: Sie erzeugen mi­nimale, polyrhythmische Verschiebungen, vordergründiges Rauschen, harte Schläge, die kurz vor dem Höhepunkt abbrechen. Das alles wird untermalt von sanften Farben und aggressiven Stroboskoplicht – eine akustische, körperlich fast klaustrophobische Erfahrung, die je nach Position im Raum variiert.
Es liegt auf der Hand, dass die »Konzerte im Maschinenhaus« der passende Rahmen sind. Die Ästhetik der Maschinenmusik fügt sich nahtlos in die Industriearchitektur aus Stahl und Beton ein. Das ist natürlich nicht mehr neu, kann und will es aber auch gar nicht mehr sein. Letztlich geht es Emptyset auch darum, die Kunstproduktionen aus dem verstaubten politisch-bürokratischen und musealen Kontext zu befreien. Die künstlerische Innovation liegt eher in der Differenz, in der Vielseitigkeit der Musik. Vieles ist möglich, ohne beliebig zu sein. Ein Ansatz, den und der auch Raster-­Noton geprägt hat.