Carlos Ramos über die libertäre Revolution vor 80 Jahren in Spanien und basisdemokratische Bewegungen heute

»Der spanische Anarchismus war sehr pragmatisch«

Carlos Ramos kam Ende der sechziger Jahre zum Anarchismus. Heute ist er Mitglied der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT und Archivar der Salvador-Seguí-Stiftung für libertäre Studien. In Madrid ist er in der basisdemokratischen Bewegung 15M aktiv.

Dieses Jahr jährt sich der Beginn der libertären Revolution (1936–1939) in Spanien zum 80. Mal. Wie kamen Sie in der Spätphase der an die gescheiterte Revolution anschließenden Diktatur Francisco Francos (1939–1975) zum Anarchismus?
Im Mai 1968 war ich zufällig in Paris und lernte dort verschiedene Libertäre kennen. Wegen einer Krankheit musste ich dann nach Spanien zurückkehren. Ich lebte in Sevilla und arbeitete als Elektriker. Als ich an einem Bauar­beiter­streik teilnahm, kam ich mit ein paar Anarchisten in Kontakt. Mit ihnen gründete ich einen Lesekreis und eine Aktionsgruppe. Dann ging ich wieder nach Frankreich, in ein Dorf in der Nähe von Toulouse. Dort lebte ich in einer Kommune zusammen mit alten Anarchosyndikalisten der historischen Gewerkschaft CNT. Das waren Exilanten.
Diese CNT-Aktivisten waren 1939, zum Ende des Spanischen Bürgerkriegs, nach Frankreich geflohen und lebten seitdem dort im Exil.
Ja. Und dort gründeten wir jungen Leute die Gruppe Solidaridad. Ab 1972 war ich Teil eines Kollektivs von Solidaridad in Madrid.
War die libertäre Revolution von 1936 bis 1939 damals ein wichtiger Bezugspunkt für Ihre Arbeit bei Solidaridad?
Mit Solidaridad waren wir einerseits Teil der Arbeitskämpfe in den Branchen, wo wir arbeiteten. Abgesehen davon machten wir im Geheimen Bildungsarbeit. Wir gaben eine klandestine Zeitschrift heraus, die wir in vielen Gegenden Spaniens unter die Leute brachten. Darin gab es Analysen der Lage der Arbeiterbewegung zu jener Zeit, wir nahmen auch Bezug auf die Errungenschaften der Libertären während des Bürgerkriegs. Wir besuchten die Arbeiter in verschiedenen Städten und versuchten, sie zu überzeugen, sich uns anzuschließen. Uns war klar, dass das Ende Francisco Francos nahe war und dass dem Land eine neue Etappe bevorstand.
1974 begannen wir mit dem Wiederaufbau der CNT und nahmen an verschiedenen Aktionen teil. Wir verurteilten zum Beispiel die Hinrichtung des Anarchisten Salvador Puig Antich oder boykottierten die Wahlen zum franquistischen Zwangssyndikat. 1976 wurde ich ins erste Koordinationskomitee der CNT gewählt. Ich begann, als Verwaltungsangestellter in der Universität zu arbeiten.
Nach Francos Tod im November 1975 erlebte die CNT zunächst eine Renaissance, spaltete sich aber Ende der siebziger Jahre wegen interner Streitigkeiten. War die Vergangenheit, die libertäre Revolution und der Spanische Bürgerkrieg, ein Trumpf oder eine Belastung für die spanischen Anarchisten in den Siebzigern?
Alle historischen Organisationen wie die CNT erlebten etwas Ähnliches: Als der Moment gekommen war, in dem die Zeitzeugen den Vertretern neuer Generationen gegenübertraten, misstraute ein Teil der alten Mitglieder der Fähigkeit der jungen, für die Emanzipation der Arbeiterklasse zu kämpfen. Während des Wiederaufbaus der CNT zeigte sich dieser Widerstand darin, dass die Alten nur diejenigen von uns Jungen unterstützten, die ganz auf ihrer Linie waren. Die übrigen nannten sie »Spione« und »Kommunisten«.
Ein weiterer negativer Einfluss bestand darin, dass viele alte CNTler starrsinnig auf den gewerkschaftlichen Rezepten und Politikformen der Vergangenheit beharrten. Sie wollten einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass 40 Jahre seit 1936 vergangen waren. Weder die Gewohnheiten der Arbeiter noch die Arbeitsbedingungen oder die politische Situation waren mehr dieselben wie damals. Gut war, dass viele Arbeiter die CNT der Jahre der Zweiten Republik (1931–1936/39) in guter Erinnerung bewahrt hatten. Aber dann trafen sie auf Sektierertum und erlebten fruchtlose Diskussionen, die verhinderten, dass die CNT vorankam.
80 Jahre sind vergangen seit die libertäre Revolution im Juli 1936 als Gegenreaktion auf den Putsch rechtsextremer Armeeangehöriger ausbrach. Damals kollektivierten Millionen Spanierinnen und Spanier Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe. Welche Relevanz hat ein Ereignis, das so weit zurückliegt, für die Gegenwart?
Während der Diktatur hat 40 Jahre lang die Rechte in unserem Land die Geschichte des Bürgerkriegs geschrieben. Danach übernahmen diese Aufgabe Marxisten an den Universitäten, die die Rolle der Libertären im Bürgerkrieg herunterspielten. Es mussten erst ausländische Forscher kommen, um den revolutionären Beitrag der anarchistischen Arbeiter ans Licht zu bringen. Die revolutionären Ereignisse haben eine hohe Relevanz, vor allem weil sie daran erinnern, dass die Arbeiter selbst, ganz ohne erleuchtete Avantgarde, eine neue Welt schaffen können.
Was sind für Sie die wichtigsten Merkmale der libertären Revolution und der anarchistischen Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?
Der spanische Anarchismus war vor allem sehr pragmatisch. Er handelte nach den Bedürfnissen des Volkes (mit pueblo, Volk, sind dabei die Proletarier und Bauern, die Unterdrückten und sozial Benachteiligten gemeint, Anm. A.F.). Man hielt sich nicht mit ausschweifenden philosophischen Erörterungen auf. Nur so lässt sich erklären, dass sich fast zwei Millionen Arbeiter in den mehr als 3 000 Kollektivbetrieben organisierten.
Aber die revolutionäre Explosion erfasste auch Bereiche jenseits von Wirtschaft und Politik: die bildende Kunst, die Familien und das Bildungswesen. Gerade haben wir in der Salvador-Seguí-Stiftung ein Buch über die pädagogischen Vorstellungen der spanischen Libertären während des Bürgerkrieges herausgegeben. Es ist erstaunlich, wie aktuell diese Ideen sind.
Erkennen Sie in dem revolutionären Prozess der Jahre 1936 bis 1939 Lehren für die Linke heute?
Ich glaube, die wichtigste Lehre ist, dass jede Gesellschaftsveränderung durch das Volk vollbracht werden muss. Es ist gut, der Politik als Vehikel von Veränderung zu misstrauen.
Sie sind in der CGT organisiert, die sich in den achtziger Jahren von der CNT abgespalten hat. Welche Bedeutung hat die historische Revolution für die Arbeit der CGT heute?
Wir entfalten eine Reihe geschichtspolitischer Aktivitäten. Regelmäßig werden Ausstellungen organisiert, es gibt Feierlichkeiten zu bestimmten Anlässen und in unserer Monatszeitung ist eine Rubrik für die libertäre Geschichte reserviert. Aber die libertären Ideen haben auch eine besondere ethische Dimension: Es reicht nicht, darüber zu schreiben, sie müssen gelebt werden. Die Alten sagten uns immer: »Die libertären Organisationen müssen in ihrer alltäglichen Praxis ein Spiegelbild der neuen Gesellschaft sein, die wir schaffen wollen.«
Wie ist die Beziehung zwischen der CGT und der CNT heute?
Seit der Spaltung sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Die starken anfänglichen Spannungen sind inzwischen ziemlich abgeflaut. Heute gibt es vielerorts eine Zusammenarbeit. Allerdings ist die CNT mit ihren 6 000 oder 7 000 Mitgliedern viel kleiner als die CGT mit 80 000.
Die Bewegung 15M begann am 15. Mai 2011 mit der Besetzung des Platzes Puerta del Sol im Herzen Madrids. Die »Empörten« forderten: »Wahre Demokratie jetzt!« Als die besetzten Plätze geräumt wurden, ging die Bewegung in die Stadtteile. Was machen Sie in Ihrem Stadtteil?
Ich bin nun pensioniert und arbeite im Bildungsprogramm der CGT mit. Mehr Zeit widme ich allerdings der Salvador-Seguí-Stiftung und der Stadtteilversammlung von Tetuán (Madrid), wo ich wohne. Seit 2011 hat die Beteiligung nachgelassen. Damals waren wir etwa 500 Leute, heute sind wir circa 100. Damals gab es viele junge Menschen und Studierende, dafür sind nun arme Menschen mit dabei, Immigranten und Menschen, deren Wohnung zwangsgeräumt wurde.
Wir haben drei Arbeitsgruppen: eine gegen Zwangsräumungen, eine Lebensmittelkooperative und eine für die »Unsichtbaren«, wie diejenigen genannt werden, deren Einkünfte nicht bis zum Monatsende reichen. Wir diskutieren viel mit dem Madrider Rathaus, das nun von der neuen Partei Podemos regiert wird. Manchmal kommt es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen.
Mit der Basisdemokratie und dem allgemeinen Misstrauen gegenüber den politischen Parteien scheint 15M eine Art libertäre soziale Bewegung zu sein. Zugleich bezieht sich die Bewegung nicht auf die libertäre Geschichte und benutzt keine anarchistischen Symbole wie die schwarzrote Fahne. Wie schätzen Sie das ein?
15M hat sich entschieden, eine heterogene Organisation zu sein, offen für jede Weltanschauung innerhalb der Linken. Aber nun sind diejenigen fort, die Podemos oder andere parlamentarische Formationen gegründet haben. Und die, die dageblieben sind, können sich auf ein Organisationsmodell und Aktionsprinzipien einigen, die typisch libertär sind. Sie sind der institutionalisierten Politik gegenüber grundsätzlich misstrauisch. Mir erscheint es richtig, dass 15M sich nicht selbst als libertär definiert. Es ist besser, eine Weltanschauung in der Praxis zu leben, als sie plakativ vor sich herzutragen.
Viele Spanierinnen und Spanier mussten den Bürgerkrieg, politische Gewalt und die Diktatur erleben. Auch die Linken bekämpften sich untereinander hart. Machen es diese Erfahrungen für die meisten unmöglich, sich positiv auf die Revolution von 1936 zu beziehen?
Diese Nichtidentifikation mit libertären und auch republikanischen Werten erklärt sich aus dem Mangel an Information. Während der 40 Jahre, die dem Bürgerkrieg folgten, mussten die Spanierinnen und Spanier ein ideologisches Bombardement der faschistischen Diktatur Francos über sich ergehen lassen. Das lässt sich nicht in zwei Tagen abschütteln. Die Bürgerkriegsverlierer, die heute fast alle tot sind, und ihre Kinder wurden zum Schweigen gebracht. Sie waren gefangen durch die Angst vor dem Horror, den sie erlitten und den sie in ihrer Umgebung wahrnehmen mussten. Es sind die Enkel der Zeitzeugengeneration, die ihre Stimme erheben und Aufklärung über die Morde und die Gewalt der Franquisten fordern. Sie tragen die linke Erinnerungsbewegung, an der sich auch die CGT beteiligt. In diesem Zusammenhang ist auch die Bewegung für eine neue Republik interessant, die immer mehr an Kraft gewinnt.
Wie schätzen Sie die gegenwärtige politische Lage in Spanien ein?
Seit dem Ausbruch der Krise 2008 ist es stetig bergab gegangen. Die Klassenunterschiede vergrößern sich. Es gibt immer mehr Menschen, die zwar arbeiten, deren Einkommen aber nicht bis zum Monatsende reicht. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter haben keinen oder einen prekären Vertrag, sie bekommen einen Hungerlohn für Zehn- oder Zwölfstundentage. Eine große Zahl an Familien verliert weiterhin ihre Wohnung, weil sie die Hypotheken nicht mehr abzahlen können. Im politischen Bereich ist die Enttäuschung über Podemos groß. Von dieser Partei wurde erwartet, dass sie die Hoffnungen erfülle, die sie geweckt hatte. Manche, die an den parlamentarischen Weg glaubten, haben sich deshalb ins Privatleben zurückgezogen. Aber andere sind zum 15M zurückgekehrt.
Angesichts dessen setzen wir Anarchisten uns dafür ein, die Selbstorganisation von unten zu stärken. Wir wollen die Fähigkeit ausbauen, sich gegen jede politische Macht wehren zu können. Dabei setzen wir nicht auf Wahlen. Abgesehen davon festigen sich gemeinschaftliche solidarische Strukturen immer weiter, die jenseits des kapitalistischen Marktes funktionieren. So gibt es zum Beispiel soziale Märkte, eine Ethikbank oder ökologische Konsumnetzwerke. Das ist ein Zeichen der Hoffnung für uns, die wir daran glauben, dass eine andere Welt möglich ist.