Überlegungen zum Begriff der Faschisierung und zur Aufgabe des Antifaschismus

Die Vorhut der Fanatisierung

Reaktionäre Ideologien, Rassismus und völkischer Nationalismus gewinnen zusehends, in Deutschland an Einfluss wie im Rest Europas. Wer begreifen will, warum der Rechtsextremismus erneut erstarkt, sollte den Blick nicht nur auf die sozialpolitische Gesamtkonstellation richten. Einige Gedanken zum Begriff der Faschisierung und zur Aufgabe des Antifaschismus.

Beim Begriff der Faschisierung geht es nicht darum, um Worte zu streiten. Die bange Frage, ob sich eine stattliche Zahl europäischer und nichteuropäischer Länder auf dem Weg in einen neuen Faschismus befindet, lässt sich nur durch Taten beantworten. Wenn man möchte, dass die Antwort einmal »Nein« lauten wird, muss man aktiv werden.
Die Gesellschaften der Moderne weisen kontinuierlich einen Anteil von mindestens zehn Prozent hartgesottener Antisemiten und Rassisten in der Bevölkerung auf. Dieser Anteil wächst in politischen Krisenzeiten sprunghaft an, er verdoppelt sich oder kann sich sogar verdreifachen. Unter günstigen, politisch stabilen und wirtschaftlich prosperierenden Umständen reduziert er sich anschließend wieder auf den unvermeidlichen Bodensatz.
Seit dem Ende des sogenannten Dritten Reiches ereigneten sich solche Ausbrüche etwa alle 20 Jahre. In den fünfziger Jahren, als die Altnazis ihre Plätze im Staat und in der Wirtschaft wieder einnahmen; in den siebziger Jahren, als die Volksseele wegen der sozialliberalen Ostpolitik kochte; in den neunziger Jahren, als der durch die Vereinigung angefeuerte Nationalismus die Demontage des Asylparagraphen im Grundgesetz nach sich zog, und nun ist es erneut das gleiche Thema, mit dem Rechtsextreme Zuspruch finden.
Die rechtsextremen Aufwallungen kommen immer wieder. Sie sind unvermeidlich, systemimmanent. Der angesichts der deutschen Vergangenheit und aller Versuche, sie aufzuarbeiten, niederschmetternde Befund lautet, dass man nicht verhindern kann, was nicht zu verhindern ist. Die Aufgabe des Antifaschismus besteht darin, Deiche zu errichten, das heißt, die Opfer der Attacken zu schützen, den Schaden dieser Ausbrüche zu minimieren und ihr Eskalationspotential zu begrenzen. Wenn man die derzeitige völkisch-nationale Bewegung mit ihrer Vorläuferin vor 20 Jahren vergleicht, ist allerdings ein deutlich höheres Eskalationspotential zu erkennen. Einer der Gründe hierfür ist die veränderte internationale Situation, das Erstarken des Rechtspopulismus in den meisten EU-Ländern. Die »Alternative für Deutschland« (AfD) und Konsorten werden nicht mehr misstrauisch als die hässlichen Deutschen beäugt, sondern erhalten lautstarken Zuspruch vom Front National, von der FPÖ, von Ukip und aus Russland. Einen besseren Freibrief kann sich die AfD kaum wünschen, obwohl es sich bei manchen scheinbar neuen Gratulanten nur um die Erben früherer Kollaborateure handelt.
Mit der Kandidatur von Donald Trump, mit der Kandidatur von Norbert Hofer, die viel zu wenig Beachtung findet, und mit der Kandidatur von Marine Le Pen im kommenden Jahr eröffnet sich den Rechtspopulisten die Perspektive auf Mehrheitsfähigkeit. Nun müssten nur noch einige Attentate zur rechten Zeit passieren, um eine Dynamik in Gang zu setzen, die kaum aufzuhalten wäre. Dazu sind islamistische Terrorgruppen bereit und in der Lage. Hoyerswerda und Rostock, Solingen und Mölln waren schrecklich genug, aber überschau­barer.
Dass es zu einer solchen Eskalation wie in den vergangenen zwei Jahren kommt, war nur eine Frage der Zeit. Irgendwann musste eine der regelmäßig wiederkehrenden rechtsextremen Eruptionen auf eine innen- und außenpolitische Gesamtkonstellation treffen, die es den Nazis erlaubt, als Voraustruppen der gesellschaftlichen Fanatisierung den Untergrund zu verlassen, um den Staat und die Gesellschaft offen herauszufordern. Die Hoffnung, mit dem Problem zu Rande zu kommen, indem man es möglichst vermeidet, schlafende Hunde zu wecken, und ihnen rasch zu fressen gibt, falls sie doch einmal aufwachen, ist ein ängstlicher Selbstbetrug.
Man kann Nazis letztlich nicht daran hindern, grässliche Aufmärsche abzuhalten, grässliche Parolen zu rufen, grässliche Lieder zu singen, grässliche Besäufnisse zu veranstalten und gräss­liches Schuhwerk zu tragen. Widersprechen, dagegenhalten, demonstrieren, Zivilcourage zeigen: All das heilt das Übel nicht, von dem sie befallen sind. Sie können und müssen daran gehindert werden, Gewalt auszuüben. Das wäre die Aufgabe einer demokratischen Polizei und Justiz. Diese Organe könnten es auch schaffen, aber offenbar wollen sie das nicht wirklich. Nichts anderes zeigen die 13 Jahre falscher Ermittlungen zu den Morden des NSU. Besserung ist nicht in Sicht.
Die Rede ist von Überfällen auf Flüchtlingsheime, von Angriffen auf Nachbarn, die man für Fremde hält, von Drohungen gegen lokale Politiker und Beamte, die ihren Pflichten nachkommen. Das passiert täglich, vorzugsweise in der Nacht, wobei die »kleineren« Delikte, Nötigungen, Schläge, Diskriminierungen, nicht mehr zu zählen sind. Bei diesen Straftaten erzielt die Polizei eine sensationell niedrige Aufklärungsquote. Das liege daran, sagt BKA-Präsident Holger Münch, dass die meisten – der wenigen bisher ermittelten – Täter bisher nicht als »politisch motivierte Straftäter aufgefallen« seien. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte bereits im vergangenen Jahr beteuert, zwei Drittel der Tatverdächtigen seien »Bürger aus der Region, die sich bisher nichts zu Schulden kommen ließen«.
Den Strategen der inneren Sicherheit geht es darum, dem Eindruck zu widersprechen, es handele sich um eine Welle politischer Gewalttaten. Insbesondere entlasten sie die NPD, gegen die ein vom Bundesrat angestrengtes Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist, von dem Verdacht, an der Veranstaltung krimineller Gewaltdelikte maßgeblich beteiligt zu sein. Doch ist es der einzelne empörte, unverstandene Bürger, der in den Keller geht, Brandflaschen abfüllt und sie nachts auf eine Flüchtlingsunterkunft schleudert, hocherfreut, dass so viele andere Einzeltäter zufällig zur gleichen Zeit das Gleiche tun?
Nein, Herr und Frau Biedermann warten auf einen Auftrag, besser noch einen Befehl. Die Biedermanns stehen im November 1938 in der Reichspogromnacht, im September 1991 in Hoyerswerda oder im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen auf dem Bürgersteig und spenden Applaus, wenn die Sturmtruppen einen Treffer erzielt haben. Wer also sind die Sturmtruppen, die nachts ihren Krieg gegen Flüchtlinge führen und tagsüber die Ordner für Pegida oder das Spalier vor den Veranstaltungen zum 3. Oktober in Dresden stellen?
Das ließe sich »rückhaltlos« aufklären, wie es immer so schön heißt, wenn Polizei und Geheimdienste nicht gerade mit dem nächsten grandiosen »Staatsversagen« beschäftigt wären. Selbstverständlich handelt es sich um eine organisierte Kampagne. Die ist ohne die Teilnahme von NPD-Kadern kaum vorstellbar. Deshalb ist es so falsch, die NPD aus dem Blick zu verlieren oder sie für bedeutungslos zu halten, nur weil sie bei den Wahlen Stimmen an die AfD verliert. Die NPD fin­det ein für sie optimales Handlungsfeld vor. Die AfD trägt ihre Anliegen fernsehgerecht vor und verkauft sie als verständliche Wut bemitleidenswerter Bürger, die es einfach »nicht schaffen«. Sie lotet aus, wie weit sie mit Nazi­themen gehen kann, und immer ist die Lügenpresse daran schuld, wenn sie dabei erwischt wird. Darf man die Bundeskanzlerin obszön beschimpfen? Nein, das findet die AfD im Nachhinein nicht richtig; aber als Volksverräterin wird man sie doch wohl bezeichnen dürfen. Dann steht ein Seehofer bereit, der nicht müde wird, sein wärmstes Verständnis zu äußern. Selbst will er keinen Schwestermord begehen, aber er schärft die Messer für jeden, der es tun will. In dieser Gesamtaufführung mit verteilten Rollen haben die Gewaltexzesse ihren Platz.
Regeln müssen gelten. So lautet das Credo eines einflussreichen Ministers, der eine persönliche tragische Erfahrung mit einem Wutbürger machen musste. Gelten sie nur für die Staatsfinanzen? Oder gelten sie auch für den rechtsextremen Teil der Gesellschaft, wo sich NSU-Terroristen, »freie Kameradschaften«, Pegida-Anhänger, Identitäre, NPD- und AfD-Mitglieder die Hände reichen und eine Menschenkette neuen Typs bilden, bei der kein Kettenglied zur Rechenschaft gezogen werden kann? Wenn der Rechtsstaat, wie wir das bisschen Demokratie nennen, das sich nach 1945 mit Hilfe der Alliierten durchsetzen konnte, auch auf diesem Terrain Gültigkeit beansprucht, dann ist das nachzuholen, wovor sich Politik, Justiz und Gesellschaft seit fünf Jahrzehnten drücken: die NPD zu verbieten. Diese nach rechtlichen Kriterien zu fällende Entscheidung liegt nun beim obersten Gericht. Den Verbotsantrag ein zweites Mal zu stellen, war eine politische Entscheidung. Hier hat der Bundesrat richtig gehandelt.