Die Türkei nach den Anschlägen vom Wochenende

Kampf ohne Helden

Nach den Anschlägen in Istanbul verfolgt die türkische Regierung weiterhin hartnäckig ihre prokurdischen Gegner. Die PKK versäumt es, sich von den Gewalttaten deutlich zu distanzieren.

Der Vater des bei dem verheerenden Anschlag in Istanbul am Samstagabend getöteten 19jährigen Medizinstudenten Berkay Akbaş fand am Sonntag die richtigen Worte: »Ich akzeptiere nicht, daß mein Sohn Märtyrer genannt wird. Mein Sohn wurde umgebracht, sinnlos und grausam, niemand soll von ihm als Märtyrer sprechen.« 44 Menschen starben bei den Selbstmordanschlägen zweier Attentäter am Abend des 10. Dezember, über 160 wurden zum Teil schwer verletzt. Nur die oppositionellen Medien sendeten das gesamte Interview, in dem Salim Akbaş sich vor allem dagegen wehrt, dass sein Sohn zu einem im Kampf gefallenen Helden stilisiert wird, um darüber hinwegzutäuschen, dass er unter Bedingungen des Ausnahmezustands Opfer eines Anschlags wurde. Dieser wirft die dringende Frage auf, ob die türkische Regierung komplett unfähig ist oder der Terror gar ihrem Kalkül folgt.
Samstagabends füllt sich die Istanbuler Innenstadt rund um den Taksim-Platz regelmäßig mit Ausgehfreudigen aus der Metropole und der ganzen Türkei. Fußballfans, die sich das Spiel Beşiktaş gegen Bursaspor angeschaut hatten, machten sich gerade auf den Heimweg oder befanden sich mit Hunderten anderen auf dem Weg, um noch irgendwo auszugehen, als ein mit 400 Kilogramm Sprengstoff gefüllter Wagen oberhalb des Stadions explodierte. Ein zweiter Selbstmordattentäter sprengte sich im nahegelegenen Maçka-Park inmitten von Polizisten in die Luft. Bei 36 der Todesopfer handelt es sich um Mitglieder der Polizei, viele von ihnen waren nicht viel älter als Berkay Akbaş. Das Profil der Opfer und der Ort des Anschlags waren taktisch geschickt gewählt worden, um möglichste viele Menschen zu treffen.
Regierungsvertreter, allen voran Präsident Recep Tayyip Erdoğan, forderten sofort lautstark Rache und hatten als Täter die PKK ausgemacht. Festnahmen von über 100 Mitgliedern der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP) folgten dem Ruf nach Vergeltung und Bestrafung der »Verräter«, ein diffuser Begriff, der seit dem vereitelten Putschversuch im Juli gewählt wird, um möglichst viele Menschen für die Regierung zu vereinnahmen und deren Gegener zu denunzieren.
Die ultranationalistische Bewegungspartei (MHP), die Regierungspartei AKP und die größte Oppositions­partei, die Republikanische Volkspartei (CHP), veröffentlichten einen Aufruf zum »gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus«. Die Tatsache, dass die derzeit unter hohem Druck stehende HDP, deren gesamte Parteiführung in Untersuchungshaft sitzt, die Erklärung nicht unterzeichnete, war eine willkommene Gelegenheit, PKK, HDP und die »Freiheitsfalken Kurdistans« (TAK), die sich am Montag zu den Anschlägen bekannten, zu einer gemeinsamen Feindesfront zu erklären. Die sofortige Distanzierung und Verurteilung des Anschlags durch den in Edirne in einer Einzelzelle in Untersuchungshaft sitzenden HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş wurde weitgehend ignoriert. In staatstreuen Medien wurden Geschichten über die EU und vor allem Deutschland als Unterstützer und ­Finanzier der PKK kolportiert – das alles strategisch zum richtigen Zeitpunkt.
Am Tag des Anschlags hatten AKP und MHP dem Parlament einen umstrittenen Entwurf vorgelegt, der dem Präsidenten in Zukunft ähnliche Befugnisse wie einem Sultan zugestehen soll, vor allem in Zeiten des Ausnahmezustands. Die Tatsache, dass die Führung der PKK sich trotz einer früheren deutlichen Distanzierung von den TAK zu dem Anschlag bislang nicht geäußert hat, offenbart aber auch die Unfähigkeit der Partei, in solchen Krisensituationen sinnlose Gewalt, woher sie auch kommen mag, deutlich zu verurteilen.