im Gespräch mit Aydın Engin, Kolumnist von »Cumhuriyet«, über die Verfolgung von Journalisten in der Türkei

»Eine demokratische Türkei liegt momentan in weiter Ferne«

Aydın Engin ist Kolumnist, Theaterautor und Mitbegründer der linksliberalen Online-Plattform t24.com. Derzeit arbeitet der 75jährige für die Tageszeitung »Cumhuriyet«, eine der letzten oppositionellen Zeitungen in der Türkei. Im Rahmen der Verhaftungswelle gegen Oppositionelle im November kam auch Engin in Untersuchungshaft, wegen angeblicher Unterstützung des Predigers Fethullah Gülen sowie der kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Unter welchen Auflagen sind Sie aus der Untersuchungshaft frei gekommen?

Nur wegen meines Alters und unter Verhängung eines Ausreiseverbots wurde ich freigelassen.

Wie schaffen Sie es, derzeit eine ­Tageszeitung herauszugeben?

Die Herausgabe der Zeitung in der Abwesenheit unseres Chefredakteurs, Murat Sabuncu, der sich in Haft befindet, ist sehr schwierig. Akın Atalay, den ich als so etwas wie unseren Geschäftsführer bezeichnen würde, ist ebenfalls im Gefängnis. Also von insgesamt zehn inhaftierten Freunden sind zwei besonders wichtige Schlüsselfiguren. Dennoch schaffen es meine jungen Freunde, eine gute Cumhuriyet herauszubringen.

Sie waren das erste Mal im Zuge des Militärputsches 1971 im Gefängnis. Wie war es dieses Jahr im Vergleich zu damals?

Ab 1971 bin ich in Abständen von drei bis fünf Monaten verhaftetet worden, so dass ich meine Zeit in »Raten« im Gefängnis verbracht habe. Das letzte Mal war kurz vor dem Militärputsch am 12. September 1980. Bei meinen Verhaftungen wurde mir der Prozess immer vor dem Militärgericht gemacht und ich musste meine Haft in Militärgefängnissen absitzen. Wenn ich die Zeit mit den heutigen Zuständen vergleiche, kann ich sagen, dass die Richter sich damals zumindest die Mühe gemacht haben, so zu tun, als ob sie sich im Rahmen der Gesetze bewegen. ­Solche Richter finden wir heute nicht mehr. Der Begriff »Rechtstaatlichkeit« ist in der Türkei nur noch eine leere Phrase auf dem Papier.

Welche Behauptung der Staatsanwaltschaft finden Sie eigentlich absurder? Dass Cumhuriyet dem Pre­diger Fethullah Gülen diene oder den Vorwurf, dass sie die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) unterstütze?

Wir sollen angeblich beiden gedient und deren Propaganda gemacht haben. Beide sind Erzfeinde, Propaganda für beide gleichzeitig zu machen, geht nicht. Historisch betrachtet hat die ke­malistische, mitunter auch türkisch-nationalistische Cumhuriyet nicht besonders kurdenfreundlich berichtet. Neuerdings hatte sich Ihre Zeitung aber beispielsweise gegen die Verhaftung von HDP-Politikern ausgesprochen. Betrachten Sie Cumhuriyet nicht historisch, sondern aus der heutigen Sicht. Unsere Zeitung steht allein für Meinungs- und Pressefreiheit, Gleichberechtigung für alle, insbesondere die Kurden, sowie für Säkularismus. Außerdem ist die PKK, die militärische Widerstandsorganisation, nur eine Komponente der kurdischen Bewegung, die HDP ist die parlamentarische Komponente, die die Demokratie verteidigt. Die Cumhuriyet ist, was das betrifft, auf der Seite der HDP.

Ist der politische und theoretische Widerspruch zwischen Kemalismus und kurdischer Autonomie also auf einmal verschwunden?

Nicht auf einmal, sondern Schritt für Schritt. Die Cumhuriyet und die kurdische politische Bewegung haben ihre Linien aus den Achtzigern und die aus den Neunzigern verändert – radikal verändert. Um den Wandel der kurdischen politischen Bewegung zu ver­stehen, empfehle ich allen, die Newroz-Botschaft von Abdullah Öcalan aus dem Jahr 2013 zu lesen! Cumhuriyet hat immer der Republikanischen Volkspartei (CHP) nahegestanden.

Fühlen Sie sich als Journalist vom CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu unter Druck gesetzt, wenn er droht, diejenigen aus der Partei auszuschließen, die für die Immunität von HDP-Abgeordneten stimmen?

Dies ist eine unvollständige Beurteilung, denn die Cumhuriyet war nicht »immer« Publikationsorgan der CHP. Die Cumhuriyet ist nach 1980 eine unabhängige Zeitung geworden. Die Warnungen der CHP-Führung hat kaum jemand ernst genommen, und niemand wurde aus der Partei geworfen. Als Journalist habe ich dies nicht als eine an mich adressierte Warnung wahr­genommen. Aber falls diese Warnung auch an mich oder uns gerichtet gewesen wäre, hätte ich nur gelacht und weiterhin professionellen Journalismus gemacht. Auch ehemalige Cumhuriyet-Mitarbeiter wie Mustafa Balbay vom rechten Flügel der CHP dürften nicht besonders glücklich über den linken und liberalen Kurs der Zeitung gewesen sein, für den Sie und der ehemalige Chefredakteur Can Dündar stehen. Das können Sie gerne denken. Es ist auch richtig. Nur eine kleine Randnotiz: Links ist als Bezeichnung für die Cumhuriyet ok, aber mit »liberal« meinen Sie hoffentlich nicht die Linie der FDP in Deutschland, sondern »freiheitlich«.

Wie viel Verantwortung tragen ­diese Teile der CHP für Ihre Ver­haftung?

Sehr viel. Die Fragen und Beschuldigungen, die uns der Richter vorgelegt hat, beruhen hauptsächlich auf den Aussagen genau dieser Personen gegenüber der Staatsanwaltschaft. Sie sind zwar CHP-Mitglieder, aber sie vertreten nicht die CHP, sondern die marginale Vaterlandspartei (Vatan Partisi). Es heißt, die Repression gegen die Cumhuriyet sei Ausdruck der tiefen Rechts-Links-Spaltung innerhalb der CHP und deute auf eine Allianz zwischen der AKP und rechten CHP-Mitgliedern, wie etwa dem genannten Mustafa Balbay, hin. Das könnte sein, ist aber Spekulation. Ich denke, die rechten Teile der CHP paktieren nicht mit der AKP, sondern vor allem mit einer nationalistischen Gruppe, die sich selbst »patriotisch« nennt, nämlich mit der kleinen, jedoch politischen einflussreichen Vater­landspartei.

Könnten die Razzien gegen Cum­huriyet Teil eines persönlich motivierten Feldzugs des selbst wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagten Staatsanwalts, Murat İnam, gewesen sein?

Nein. Für diese Operationen wurde ein passender Staatanwalt gesucht und ­gefunden. Dass er solch eine riskante Operation auf eigene Faust unternommen hat, denke ich nicht.

Stimmen Sie der Aussage der stellvertretenden CHP-Vorsitzenden und Parteisprecherin Selin Sayek Böke zu, dass der mit denselben Vorwürfen wie Sie konfrontierte İnam hinter Gitter gehört und nicht weiter gegen Sie ermitteln sollte?

Ich denke, dass İnam sofort suspendiert werden sollte. Er sollte nie mehr Staatsanwalt oder Jurist sein dürfen. Und so wird es schlussendlich auch geschehen. Bei unserem Treffen wenige Tage vor dem Putschversuch im Juli dieses Jahres haben Sie gesagt: »Die Gülen-Bewegung ist weit weg von Gewaltausübung.« Sehen Sie das immer noch so? So habe ich lange über die sichtbare, legale Seite der Gülen-Bewegung ­gedacht. Es war mir nicht bewusst, wie stark der illegale Flügel innerhalb der Polizei und des Militärs vertreten war. Das ist ein beruflicher Mangel an Wissen. Aber auch viele Kollegen, sogar aus der Gülen-nahen Medienlandschaft, haben dies nicht bemerkt. Natürlich schützt mich das nicht vor Kritik.

Werden Ihnen Ihre kritischen Artikel gegen Gülen vor Gericht nützen?

Ich habe nicht viel nachgeforscht, ihn weder getroffen noch seine Predigten angehört. Ich habe jedoch versucht, diese Bewegung näher kennenzulernen. Dies werde ich vor Gericht aber nicht brauchen, weil das Ziel ohnehin nicht darin besteht, mich und meine Freunde als Individuen zu verurteilen. Die Herrschenden wollen die Cumhuriyet als Zeitung zum Schweigen bringen. Falls die Methode der Verhaftungen nicht wirken sollte, werden sie es auf anderem Weg versuchen.

Wann wird es für Sie und Ihre Kollegen zur Verhandlung kommen, ­welchen Ablauf und welche Ergebnisse erwarten Sie?

Ich weiß es nicht. Wenn der Staatsanwalt es möchte, kann er die Anklageschrift so lange zurückhalten wie er will, so dass meine Freunde während dieser ganzen Zeit im Gefängnis bleiben müssen. So oder so wird es nicht an­genehm für ihn, denn auf eine solch inhaltsleere Anklageschrift werden wir nur Antworten geben, die das Verfahren zum Alptraum des Staatsanwalts machen werden.

Wie empfinden Sie bisher die Solidarität internationaler Kolleginnen und Kollegen?

Zahlreiche Kollegen sind in die Türkei gereist, zu uns in die Redaktion gekommen und haben ihre Solidarität gezeigt und werden dies auch weiter tun. Gerade habe ich stundenlang mit Kol­legen aus der Schweiz, Dänemark und Österreich gesprochen. Alle haben ihre Hausaufgaben gut gemacht und rich­tige Fragen gestellt, auf die ich ihnen in meinem gebrochenen Deutsch ausführlich geantwortet habe. Das geht schon seit dem 5. Dezember so. 

Das World Justice Project, eine amerikanische NGO, listet die Türkei in einem Index von Rechtsstaatlichkeit auf Platz 99, hinter dem Iran und Russland. Wie schätzen Sie die Chancen der Demokratie in der ­Türkei heute ein?

Das ist ein sehr langer und schwerer Kampf, aus dem wir letztlich als Sieger hervorgehen werden. Wir erleben Tage, in denen die Türkei einen radikalen ­Paradigmenwechsel vollzieht. Die Türkei wendet sich von einer 190 Jahre ­alten Politik ab. Sie wendet dem Westen ihren Rücken und dem Osten ihr Gesicht zu, also dem Shanghaier Abkommen und dem Golf. Damit meine ich Saudi-Arabien und Katar. Deswegen liegt eine demokratische Türkei momentan in weiter Ferne und auch das Wenige, das an Demokratie noch übrig ist, ist in Gefahr.