Für jeden eine Wahrheit
Gefälschte Nachrichten. Alternative Fakten. Post-truth-Politik. Diese drei Themen beherrschen die derzeitigen Diskussionen, sie sind verbunden mit der Sorge darüber, wie wir zwischen wahren und falschen Nachrichten unterscheiden können, und sie alle sind dem anschein nach mit der Wahl von Donald Trump zum US-amerikanischen Präsidenten verknüpft. Trumps Wahlsieg wurde in den Augen vieler von einer Welle gefälschter Nachrichten begünstigt. Seine Vorliebe für die Verbreitung von Lügen, wie beispielsweise über die Anzahl der Zuschauer bei seiner Amtseinführung, wurde von seiner Beraterin Kellyanne Conway zur Akzeptanz »alternativer Fakten« umgedeutet. Viele sind der Meinung, Trumps Wahlsieg habe gezeigt, dass wir im Zeitaltalter der postfaktischen Politik leben, in dem Fakten für große Teile der Wählerschaft irrelevant für die politische Meinungsbildung geworden sind.
Alle drei sind zentrale Probleme, aber wir interpretieren sie oft fehlgeleitet, was eher dazu beiträgt, die Besonderheiten der heutigen Politik zu verdecken als sie zu erklären.
Wie ich bereits in einem anderen Artikel erörtert habe, sind gefälschte Nachrichten nichts Neues. Ob der von HL Menckens erfundene Bericht über eine entscheidende Schlacht im russisch-japanischen Krieg; die Publikation einer Reihe von Artikeln Henry Fords über eine jüdische Verschwörung, basierend auf den gefälschten »Protokollen der Weisen von Zion«; die Lügen über die Tragödie in Hillsborough oder die weltweit verbreiteten Nachrichten über irakische Massenvernichtungswaffen, die es gar nicht gab: Als Nachrichten getarnte Lügen sind letztlich genauso alt wie die Nachrichten selbst. Was heute neu ist, sind nicht die Nachrichten, sondern deren Lieferanten.
In der Vergangenheit wurden Nachrichten und Informationen von Regierungen, politischen Institutionen und Zeitungen manipuliert. Heute ist jeder mit einem Facebook-Account dazu in der Lage. Statt der alten, sorgsam zusammengestellten gefälschten Nachrrichten gibt es heute einen regellosen Strom von Lügen. Ebenso wie die Institutionen der Elite ihren Zugriff auf die Wählerschaft verloren haben, ist auch ihre Fähigkeit erodiert, als gatekeeper von Nachrichten zu agieren, zu definieren, was wahr ist und was nicht.
Auch der Begriff der »alternativen Fakten« ist nicht neu, seine Geschichte ist jedoch komplexer. Donald Trumps Behauptung, mehr Menschen seien zu seiner Amtseinführung erschienen, als zu jener davor, war offensichtlich falsch. Bemerkenswert war nicht nur die Lüge, sondern auch deren Verteidigung. Indem sie nahelegte, die Falschmeldung sei eine »alternative« Wahrheit, basierend auf »alternativen« Fakten, bezog sich Conway auf eine Reihe von Konzepten, die Radikale in den vergangenen Jahrzehnten angewandt haben – nicht um zu lügen, sondern um die Macht etablierter Wahrheiten anzugreifen, indem sie darauf bestanden, dass das, was »Fakten« oder »Wissen« darstellt, immer in Beziehung zu einem bestimmten Kontext oder einer Gruppe steht.
Philosophen bezeichnen diese Behauptung als »epistemologischen Relativismus«: den Glaubeb daran, dass die Trennung zwischen wahr und falsch nicht in einer objektiven Realität, sondern in verschiedenen sozialen Konventionen wurzelt, und dass es viele radikal unterschiedliche, unvereinbare und dennoch gleichermaßen gültige Wege der Welterkenntnis gibt.
Der epistemologische Relativismus hat in den vergangenen Jahren im akademischen Bereich an Popularität gewonnen, vor allem durch den Postmodernismus. Der Postmodernismus ist schwer zu definierendes Konzept; sein Kern ist die Feindschaft gegen das Projekt der Aufklärung, eine universalen Auffassung aus fragmentierten Erfahrungen zu schaffen, unseren Beobachtungen der sozialen und natürlichen Welt Kohärenz zu verleihen. Da kein Mensch eine »göttliche Perspektive« besitzt, so die Argumentation der Postmodernisten, kann jeder Mensch nur aus einer partikularen Perpektive sprechen, einer Perspektive, die von spezifischer Erfahrung, Kultur und Identität geprägt ist. »Wahrheit« ist notwendigerweise lokal und spezifisch für die jeweiligen Gesellschaften oder Kulturen.
Als akademische Theorie erscheinen solche Ideen verworren und zweifelhaft. Dennoch hat die Idee vom relativen Wissen breiteren gesellschaftlichen Anklang gefunden; von der Behauptung, Frauen würden auf eine bestimmte Art und Weise denken, bis hin zur Annahme einer »alternativen Medizin«.
Ein Grund dafür war die Bereitschaft vieler Teile der Linken, eine relativistische Perspektive zu übernehmen. Einst hatte sie die universalistische Sichtweise der Aufklärung angenommen, eine Sichtweise, die viele große radikale Bewegungen angetrieben hat, die die moderne Welt prägten; von antikolonialen Kämpfen über die Bewegung für das Frauenwahlrecht bis zum Kampf für die Rechte von Homosexuellen.
Heute jedoch sind Radikale eher geneigt, den Universalismus als »eurozentrisches« Projekt« zu schmähen. Die Ideen der Aufklärung, argumentieren viele, sind aus einer bestimmten Kultur und Geschichte heraus entstanden und sprechen spezifische Bedürfnisse, Wünsche und Geisteshaltungen an. Nichtwestliche Gesellschaften müssten deshalb ihre eigenen Begriffe und Werte basierend auf ihren spezifischen Kulturen, Traditionen und Bedürfnissen entwickeln; und nicht nur nichtwestliche Gesellschaften, sondern auch verschiedene soziale Gruppen in den westlichen Nationen, wie zum Beispiel Schwarze, Frauen oder Homosexuelle.
Die Akzeptanz dieses relativistischen Ansatzes ging in den vergangenen Jahren einher mit dem Aufkommen der Identitätspolitik und auch mit einer subjektiveren Weltsicht: dem Glauben daran, dass die Art, wie wir die Welt wahrnehmen oder empfinden, ebenso wahr ist wie ihr tatsächlicher Zustand. Beispielsweise wird inzwischen weithin akzeptiert, dass Rassismus nur von dessen Opfern definiert werden könne. Andere bestehen darauf, dass sich die Ideen eines Schamanen aus dem Regenwald nicht fundamental von denen eines Laborwissenschaftlers unterscheiden, denn, wie es die Philosophin Sandra Harding ausdrückt: »Alle Wissenssysteme, auch die der modernen Wissenschaft, sind lokal.«
Die Ablehnung des Universalismus, die Übernahme des Relativismus und die Erhebung der Subjektivität über die Objektivität haben nichts Progressives. Jeder der drei Ansätze kann unter bestimmten Umständen nützlich sein, aber jeder ist als Grundlage eines Weltbildes äußerst problematisch. Relativistismus und Identitätspolitik mögen in den vergangenen Jahrzehnten von Teilen der Linken übernommen worden sein – es handelt sich jedoch um zutiefst konservative Sichtweisen. Sie kamen im späten 18. Jahrhundert im Rahmen der konservativen Reaktion gegen die Aufklärung auf und waren zentraler Bestandteil der Weltanschauung rassistischer Denker, die darauf beharrten, dass unterschiedliche Ethnien unterschiedliche kognitive Fähigkeiten hätten und von unterschiedlichen Werten angetrieben würden.
Das eigentlich Neue heute ist, dass die Rechten, insbesondere die reaktionären Rechten, begonnen haben, ihre eigenen Ideen wieder für sich zu beanspruchen. Für Alain de Benoist, den Gründer der nouvelle droite in Frankreich, ist die »entscheidende Frage« des 21. Jahrhunderts, ob die Menschen »in ihrem Glauben, ihren Traditionen und ihren Weltanschauungen die Mittel zum notwendigen Widerstand finden werden«. Jean-Marie Le Pen, der neonazistische Gründer des Front National, eignete sich Benoists Idee an und sagte: »Wir haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, unseren Nationalcharakter ebenso zu verteidigen wie das Recht auf Unterschiedlichkeit.« Zu oft wurde in den vergangenen Jahren seitens der Linken die Idee vom »Recht auf Unterschiedlichkeit« als progressiv ausgegeben– nun wird sie von Reaktionären nun als ideologischer Rammbock verwendet. Die sogenannte Identitäre Bewegung – rechtsextreme Gruppen, die offen für die Identitätspolitik eintreten – ist heute in vielen europäischen Ländern wie Österreich und Frankreich verwurzelt.
Das Äquivalent dieser Bewegung auf der anderen Seite des Atlantiks ist die »Alt-Right«, die sich einem ihrer Anführer, Richard Spencer, zufolge »ganz um Identität« drehe. Spencer behauptet, weiße Menschen besäßen ihre eigene Kultur, Werte, Überzeugungen und Denkmuster, die nicht durch Immigration oder Vermischung verschiedener Kulturen geschwächt werden dürften. Über die Kampagne von Trump sagte er: »Es war das erste Mal in meinem Leben, dass Identitätspolitik für weiße Menschen zum Thema gemacht wurde.«
Als ich zuvor darauf hingewiesen habe, dass die Idee von den »alternativen Fakten« auf »einer Reihe von Konzepten basiert, die in den vergangenen Jahrzehnten von Radikalen verwendet wurden«, wollte ich damit nicht sagen, dass Kellyanne Conway oder Steve Bannon, gar Donald Trump Foucault oder Baudrillard gelesen haben, oder dass es das Ziel der postmodernen Linken war, Lügen akzeptabel zu machen.Vielmehr haben Teile der Hochschulen und der Linken in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, eine Kultur zu schaffen, in der die relativistische Sicht auf Fakten und Wissen unproblematisch erscheint. Dadurch ist es für die reaktionäre Rechte nicht nur einfacher geworden, sich reaktionäre Ideen wieder anzueignen, sondern auch, für diese zu werben. Außerdem ist die Linke derzeit nicht in der Lage, der identitären Rechten entgegenzutreten, da sie selbst jahrzehntelang für den Relativismus und die Identitätspolitik geworben hat.
Was ist von der Idee eines post-truth-Zeitalters zu halten? Dem Historiker Daniel T. Rogers zufolge ist das Auffällige an unserer Epoche nicht, dass sie keine Wahrheiten gibt, sondern dass es mit »Wahrheiten« durchtränkt erscheint. Das Problem ist, dass viele dieser Wahrheiten nicht viel mehr bedeuten als »Das ist, was ich glaube« oder »Das ist, wovon ich denke, dass es wahr sein sollte«. Wir scheinen in einem Zeitalter mit unzähligen Wahrheiten zu leben, die im Wettbewerb zueinander stehen. Jede besteht auf ihren eigenen Wahrheitsanspruch, ihre jeweiligen Vertreter lehnen es ab, andere »Wahrheiten« zu diskutieren oder auch nur anzuerkennen.
Wissenschaftliche Wahrheiten stimmen, obwohl wissenschaftliches Wissen notwendigerweise provisorisch ist, in etwa überein mit der Welt, wie sie ist. Bei politischen und moralischen Wahrheiten ist das anders. Diese sind nicht nur Anschauungen der Welt, wie sie ist, sondern auch der Welt, wie wir sie uns wünschen. Politik beruht nicht nur auf Fakten, sondern auch auf ideologischen Rahmen, in denen Fakten interpretiert werden. Diese Rahmen helfen uns, die Welt zu definieren, in der wir gerne leben würden. Und weil diese verschiedenen Rahmen widersprüchliche Anschauungen über unserer Welt enthalten, basiert Politik auf der Bereitschaft, öffentlich zu diskutieren, der Bereitschaft, anderen zuzuhören und unsere eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, anderen entgegenzukommen und uns zu ändern. Das Verblassen dieser Bereitschaft und Offenheit gibt uns nun das Gefühl, in einem Post-Truth-Zeitalter zu leben.
In der Vergangenheit wurden politische Bezugssysteme überwiegend auf der Grundlage der ideologischen Trennung zwischen links und rechts konstruiert. Es gab natürlich viele Varianten von beiden, aber was jede bot, war eine spezifische ideologische Möglichkeit, die Welt zu sehen, die gleichen Fakten anders zu interpretieren und zu anderen Schlussfolgerungen über Politik zu kommen.
Heute sind diese politischen Bezugssysteme zersplittert und mehr von Identität als von Ideologie geprägt. Die Bezugssysteme, in denen wir die Welt interpretieren, sind immer weniger »liberal«, »konservativ«, »sozialistisch« oder »kommunistisch«, sondern »muslimisch«, »weiß«, »amerikanisch« oder »schwarz«. Wenn heute jemand von »liberal« oder »konservativ« redet, wird das ebenso sehr als kulturelle Identität wie als politischer Standpunkt gesehen. Politische Kämpfe spalten zwar Gesellschaften entlang ideogischer Linien, vereinigen sie jedoch jenseits ethnischer oder kultureller Spaltungen. Auf kultureller, ethnischer oder religiöser Identität gegründete Kämpfe führen zwangsläufig zu einer Zersplitterung. In politischen Kämpfen ist es nicht wichtig, wer du bist, sondern woran du glaubst; in identitären Kämpfen ist das Gegenteil der Fall.
Rogers zufolge ist das Resultat solcher sozialer Veränderungen folgendes: »Die grundlegende Idee von Politik als einem Akt der Beratung, bei dem Menschen mit unvermeidbar verschiedenen Wünschen und Voraussetzungen zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen müssen, ist entwertet.« Ob es um die Globalisierung oder die Erderwärmung geht: Jeder hält an seiner Sicht der »Wahrheit« fest und lehnt es ab, sich mit »anderen« Sichtweisen zu befassen. Wahrheiten, so Rogers, »gleiten ohne Berührung aneinander vorbei«. Das ist weniger eine post-truth-Welt, als eine Welt mit zu vielen losgelösten »Wahrheiten«, eine Welt, die zugleich zu relativ und zu absolut ist.
Gefälschte Nachrichten, alternative Fakten und das Gefühl, in einer post-truth-Welt zu leben, sind Symptome einer tieferliegenden Krankheit, alle verbunden mit einer immer stärker fragmentierten Welt, deren Teile immer weniger bereit sind, sich miteinander zu befassen. Bis wir damit anfangen, uns mit den grundsätzlichen Problemen zu beschäftigen, die die Erosion des Universalismus, der Aufstieg der Identitätspolitik und die Schaffung fragmentierterer Gesellschaften mit sich bringen, wird jeder Versuch, diese Symptome anzugreifen, den derzeitigen Zustand höchstwahrscheinlich nur weiter verschlechtern.
Aus dem Englischen von Felix Henne
Der Text mit dem Titel »Not post-truth as too many ‘truths’« erschien am 5. Februar auf Pandaemonium, dem Blog des Autors. Kenan Malik ist Publizist, Universitätsdozent und Rundfunkjournalist. Er gilt als linker Kritiker des Multikulturalismus. 2009 erschien von ihm das Buch »From Fatwa to Jihad: The Rushdie Affair and its Legacy«.