Die Linke und das Recht

Haupt- und Nebenpflichten

Im Paragraphendschungel – eine neue Kolumne über das Recht im linken Alltag
Im Paragraphendschungel Von

Mit dem Recht ist es so eine Sache. Die Linke will nicht so richtig mit ihm warm werden, zugleich ist sie immer wieder auf den Schutz durch das Rechtssystem angewiesen, wenn es gilt, sich gegen Zumutungen seitens des Staates oder von Investoren zu wehren. So war es gerade das bürgerliche Recht und innerhalb dessen besonders das bei Jurastudierenden geradezu legendär unbeliebte Besitzrecht, mit dessen Hilfe sich die Bewohner und Bewohnerinnen des Hausprojekts »Rigaer 94« in Berlin-Friedrichshain gegen eine rechtswidrige Räumung vorläufig wehren konnten.
Das bürgerliche Recht, auch Zivilrecht genannt, ist insbesondere bei eher linken Studierenden der Rechtswissenschaft ziemlich verpönt. Ich konnte das nie nachvollziehen. Das Zivilrecht prägt unseren Alltag in der bürgerlichen Gesellschaft, ist doch jeder Zigarettenkauf ein Vertragsabschluss und ein Eigentumsübergang.
Spannend ist es, aktuelle Probleme aus dem Freundeskreis einmal rechtlich durchzudenken. Hier also ein aktueller Fall: Seit geraumer Zeit radeln Essensausfahrer und wenige -ausfahrerinnen durch deutsche Großstädte. In den Thermoboxen auf ihrem Rücken bringen sie leckere Gerichte von Restaurants zu den Wohnungen der Kundschaft. Über die Radler ist, jenseits einiger weniger Einblicke in ihre prekären Arbeitsverhältnisse, nicht viel bekannt. Etwas mehr Licht ins Dunkel bringt der Twitter-Account »food­oraboi«. Der Boi twittert unbeschwert über seinen Alltag, insbesondere, an wen er so liefert und ob er viel oder wenig Trinkgeld bekommt. Er hat sich damit eine nicht gerade kleine Fangemeinde geschaffen. Das geht so weit, dass seine Fans bei Foodora bestellen – in der Hoffnung, der Boi würde das Essen liefern. Manche schrieben diesen Wunsch bei der Bestellung auch in die Anmerkungen.
Ein Beispiel ist Kim, auch sie nutzt Twitter und ist dort unter dem Namen »materialistgrl« zu finden. Kim ist bekennender Fan des Boi. Als ich sie frage, was sie an ihm denn so interessant finde, antwortet sie: »In Zeiten der völlig aufgeklärten Erde hält der food­oraboi den Mythos aufrecht – wer weiß schon, wer genau hinter dem rätselhaften Mann mit dem pinken Profilbild steckt? Foodoraboi bringt uns nicht nur das leckere Thai-Curry, sondern auch unsere tägliche kleine Alltagspoesie ins Haus.« Auch sie schrieb bei ihren Bestellungen, man möge ihr den Boi schicken, was allerdings nie erfüllt wurde. Irgendwann stellte sich heraus, dass das gar nicht möglich gewesen wäre, da der Boi, entgegen der Vorstel­lungen seiner Fans, gar nicht in Berlin auslieferte, sondern in München. Diese Information überraschte, da der Boi durchweg ohne Ortsangabe twitterte und eine ungeschriebene Regel des deutschen Internets besagt, dass bei Postings, seien sie bei Twitter oder Indymedia, die nicht mit einer Ortsangabe versehen sind, immer Berlin gemeint ist.
Wie ist das nun rechtlich zu bewerten? Wäre Foodora hier zur Aufklärung verpflichtet gewesen? Immerhin wusste das Unternehmen bei Annahme der Bestellung, dass sich die Fans eine Lieferung durch einen ganz bestimmten Fahrer wünschten. Wer dies bejaht, müsste folgerichtig den Fans des Boi dazu raten, die Verträge nachträglich anzufechten. Doch so einfach ist es natürlich nicht. Das bürgerliche Recht unterscheidet zwischen Hauptpflichten und Nebenpflichten. Betrachtet man das Geschäftsmodell von Foodora, so steht hier die Lieferung des Essens im Vordergrund. Wer es liefert, ist letztlich reine Nebensache. Foodora in Regress zu nehmen, wäre daher vermutlich nicht erfolgversprechend, wenn auch die Enttäuschung der Boi-Fans verständlich erscheint.
Dass man nicht wegen jeder nebensächlichen Falschangabe ein Vertragsverhältnis als Ganzes angreifen kann, musste kürzlich auch Sabine Kunst, die Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin, feststellen. Sie hatte beschlossen, dem an der Hochschule beschäftigten Stadtsoziologen Andrej Holm wegen unrichtiger Angaben zu seinem Verhältnis zur Stasi im Einstellungsbogen der Universität zu kündigen, nachdem dieser als Staatssekretär zurückgetreten war. Die beabsichtigte Kündigung stand im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das die Auffassung vertrat, nach über 20 Jahren sei eine kurze Tätigkeit für die Stasi nicht mehr maßgeblich. Daneben löste der Beschluss zur Kündigung eine Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften durch Studierende aus. Letztlich zog Kunst die Kündigung wieder zurück und sprach stattdessen eine Abmahnung aus. Ob diese Entscheidung auf eine späte Einsicht bezüglich der Rechtslage oder auf den Druck der Besetzung zurückzuführen ist, werden wir wohl leider nicht ­erfahren.