Ein Gespräch mit dem Autor Paul Engler über die Erfolge von sozialen Bewegungen und ihre Voraussetzungen

»Die Unterbrechung des Normalzustandes«

Paul Engler lebt in Los Angeles und war mehrere Jahre als Organisator für Gewerkschaften, die globalisierungskritische und migrantische Bewegungen tätig. Zusammen mit seinem Bruder Mark verfasste er das Buch »This Is an Uprising, How Nonviolent Revolt Is Shaping the 21st Century«, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Darin untersuchen sie verschiedene soziale Bewegungen der vergangenen 80 Jahre.

In Ihrem Buch vergleichen Sie sehr unterschiedliche Protestformen – von wilden Streiks in US-amerikanischen Fabriken der dreißiger Jahre über die Bürgerrechtsbewegung bis hin zum sogenannten arabischen Frühling. Ist es überhaupt sinnvoll, solch unterschiedliche Bewegungen in solch verschiedenen Kontexten miteinander zu vergleichen?
Der globale und historische Vergleich hat zwei bemerkenswerte Ergebnisse geliefert. Erstens: Viele Taktiken, die angewandt werden, um sozialen Wandel herbeizuführen, sind universal und in diversen Kontexten gültig. Die politischen Strategien, egal ob sie nun auf die Theorie Gene Sharps oder Antonio Gramscis zurückgehen, sind oft die gleichen. Zweitens: Alle sozialen Bewegungen haben mit einem Zwiespalt zu kämpfen – dem Verhältnis von spontaner Mobilisierung der Massen und dem Aufbau langfristiger und stabiler Basisstrukturen.

Was zeichnet diesen Zwiespalt aus?
In den USA gibt es eine lange Tradition des transformativen organizing. Es versucht in Nachbarbarschaften oder in Betrieben kollektiv für Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsumstände einzutreten. Viele progressive Kräfte verwenden einen Großteil ihrer Ressourcen für diese Form der Aktivierung. Gleichzeitig kann beobachtet werden, dass spontane Aufstände und Massenproteste zumeist losgelöst von diesen Organisationen entstanden sind. »Occupy« oder »Black Lives Matter« hätten nie solch eine Dynamik entfalten können, wenn sie aus vorhandenen Strukturen hervorgegangen wären. Gleichzeitig sind solche Bewegungen, wenn sie tatsächlich Veränderungen bewirken wollen, gezwungen, sich feste Strukturen zu schaffen.
Dramatisch veranschaulicht wurde dies im Zuge der ägyptischen Revolution. Während die Jugendbewegung »6. April«, die nur locker und hauptsächlich über soziale Medien organisiert war, es schaffte, Millionen Menschen aufzurütteln und gegen Hosni Mubarak auf die Straße zu bringen, war es die gut organisierte und in den Nachbarschaften verankerte Muslimbruderschaft, die dann die Früchte des Umsturzes erntete und die säkularen Ziele der Jugendbewegung konterkarierte.

Gibt es im historischen Vergleich bedeutende Unterschiede zwischen den Bewegungen des 21. Jahrhunderts und den vorangegangenen?
Die Annahme, im neuen Jahrtausend hätte das Internet Protestformen grundlegend verändert und die neuen und jungen Bewegungen erst ermöglicht, ist weit verbreitet. Wir haben diesen Wandel so nicht erkennen können. Unsere Betrachtungen zeigen eher, dass die neuen Kommunikationstechnologien zwei andere Entwicklungen beschleunigt haben. Erstens sind dadurch Massenmobilisierungen einfacher und häufiger geworden und somit hat sich das Verhältnis von Basisstrukturen zu spontanen Protestbewegungen weiter verschoben. Wenn man die sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts betrachtet, waren es oft neu gegründete Studentengruppen oder junge Gewerkschaftsflügel, die spontane Massenproteste organisierten. Für diese Gruppen war es unglaublich schwierig, genügend Leute zu erreichen und ihre Gewinne, die oft unter hoher Opferbereitschaft erkämpft wurden, für sich nutzbar zu machen. Inzwischen können neue Gruppierungen, die sich geschickt vermarkten, innerhalb von wenigen Tagen online mehrere Millionen Dollar Spendengelder generieren. Das verschiebt das Verhältnis zwischen spontanen Mobilisierungen und Basisorganisation bedeutend. Zweitens unterstützen die neuen Technologien die bereits eingesetzte Dezentralisierung von Bewegungen.

Sie beschreiben am Beispiel des serbischen Umsturzes, wie erfolgreiche dezentrale Organisierung in Verbindung mit massenhaftem zivilem Ungehorsam aussehen kann.
Die Aktivisten von »Otpor« setzten seit 1998 auf Online-Strategien. Dabei ist nicht die Anwendung der damals neuen Technik ihre zentrale Innovation, sondern wie sie diese nutzten, um ein radikal dezentralisiertes Bewegungsmodell in die Realität umzusetzen. Sie waren die erste gewaltfreie soziale Bewegung, die Dezentralisierung eingehend studiert und beim Sturz von Slobodan Milošević eingesetzt hat.

Otpor wird zugeschrieben, dass sie unternehmerische Marketingmodelle in die Bewegungspolitik überführt hätten.
Branding ist tatsächlich ein wichtiger Bestandteil ihrer Strategie, die auch von vielen anderen Bewegungen übernommen wurde. Ein Markenzeichen erlaubt es dezentralen Bewegungen, unglaubliche Reichweiten zu erzeugen, und öffnet Kanäle, die vormals jenseits des Politischen zu liegen schienen. Diese Entwicklung kann natürlich kritisch betrachtet werden, doch ersetzt diese Taktik in vielen Protestbewegungen die charismatische Führungsfigur.

Was macht den Erfolg sozialer Bewegungen aus und was kann man daraus lernen?
Selbstverständlich gibt es nicht das eine Erfolgsrezept, aber prinzipiell eint erfolgreiche Bewegungen ein hohes Maß an Opferbereitschaft bei einem gleichzeitig hohen Maß  an Unterbrechungen des Normalzustandes. Dies allein reicht jedoch nicht. Einzelne Aktionen sollten stets Teil einer Eskalationsstrategie sein, sich also in ihrem Ausmaß und ihrer Dramaturgie je nach politischem Ziel steigern lassen. Auf diese Weise können Mehrheiten erzeugt und dem politischen Gegner Zugeständnisse abgerungen werden. Zur Erhaltung dieser Landgewinne ist es darüber hinaus nötig, dass Methoden des temporären Massenaufstandes mit langfristiger Organisierung verbunden werden.

Eine Blaupause, die nicht nur von progressiven Kräften angewendet werden könnte.
Das stimmt, solche Modelle können sich die verschiedensten Akteure angeeignen. Rechter Populismus ist auf dem Vormarsch, die amerikanische Tea Party-Bewegung beeinflusst nachhaltig das politische Klima in den Vereinigten Staaten und in Europa lesen die Neuen Rechten wie verrückt Antonio Gramsci. Das heißt allerdings im Umkehrschluss nicht, dass es gilt, irgendein puristisches linkes Bewegungsmodell zu entwickeln. Vielmehr geht es darum, flexibel und auf der Höhe der Zeit zu agieren. Beispielsweise kann Unternehmensliteratur uns einiges über effektive Dezentralisierungsstrategien lehren – dort wurden massenhaft Ressourcen in Forschung investiert und es wäre ignorant, solche Ergebnisse außen vor zu lassen. Es gilt, besser zu sein als unsere politischen Gegner. Und ich bin überzeugt davon, dass das möglich ist, denn nicht nur sind soziale Fragen die eigentlich populären, es gibt auch ein ganzes Ökosystem an sozialen Bewegungen und Strukturen, deren Energien gerade in diesen Zeiten gebündelt werden können.

Was stimmt Sie so zuversichtlich in Zeiten, in denen überall auf der Welt Mehrheiten Rechtspopulisten in Regierungsämter verhelfen?
Das kann ich nur aus der US-Perspektive beantworten, aber hier hat die Wahl Trumps eine unglaubliche Dynamik in Gang gesetzt. Leute begeben sich massenhaft auf die Straße und tun ihren Unmut über die neue Regierung kund. Gleichzeitig sind professionelle progressive Organisationen gut aufgestellt, um diese Energie zu bündeln. Da sind zum Beispiel Gruppen wie »Cosecha«, »DREAMers« oder die Umweltorganisation »350.org«, die allesamt in der Lage sind, sowohl durch Massenproteste den politischen Alltag zu unterbrechen als auch Aktive längerfristig zu organisieren. Außerdem haben wir mit der Kampagne von Bernie Sanders die Erfahrung gemacht, dass die Legitimationskrise nicht nur den Rechten dienen muss. Die Unterstützung, die seine Kandidatur erfahren hat, war nur die Spitze eines Eisbergs. Viel mehr wäre noch möglich gewesen. Linke Politik hat durchaus die Chance, populär zu sein, wenn sie es schafft, sich effektivere Strategien des Protests und der Organisierung anzueignen.