Her mit der Desintegration!
»Ein Volk besteht nicht nur aus Tugendbolden. Die Volksnächsten sind die Räuber, die Schelme – jeder rechte Junge weiß das«, schrieb der Düsseldorfer Journalist Fritz Heymann 1937 in seinem Buch »Der Chevalier von Geldern«, einer »Chronik der Abenteuer der Juden«. Darin porträtiert er jüdische Schurken und Gauner, Rebellen und Magier, um zu zeigen, dass »auch solche Juden sind: einfältige Männer mit derben Fäusten«. Mit seiner Sammlung von Biographien wollte er eine Gegengeschichte zu der des passiven, gottesfürchtigen Judentums schreiben, eine, die das Kriegerische, Aggressive, Listige und Aktive in den Mittelpunkt rückt, um der jüdischen Jugend neue Vorbilder zu liefern. »Vielleicht wäre die Geschichte der Juden anders verlaufen, wäre sie anders geschrieben worden«, war die Hoffnung des 1942 in Auschwitz ermordeten Heymann.
Es gehe nicht nur um die deutsche Mehrheitsgesellschaft, auch innerhalb des Judentums werde der Feminismus aus orthodox-religiöser Perspektive am liebsten totgeschwiegen.
Seit diesem Frühjahr existiert ein neues Magazin, dessen »Positionen zur jüdischen Gegenwart« vom Geiste Heymanns inspiriert scheinen. Jalta wendet sich gegen die gesellschaftlichen Erwartungen an die jüdische Community in Deutschland und will neue Perspektiven auf jüdisches Leben jenseits von Klischees präsentieren. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft seien Rollenbilder entstanden, so die Mitherausgeberin Lea Wohl von Haselberg in einem Beitrag, »die so eng wie öffentlichkeitswirksam waren, in denen definiert war, was Jüdischsein hieß, wann und wie laut oder leise, wie bequem und wie folkloristisch jüdisches Auftreten sein konnte«. Viele gegenwärtige jüdische Positionen haben in dieser öffentlichen Wahrnehmung keinen Raum, die Vielfalt jüdischen Lebens werde, wie von Haselberg gegenüber der Jungle World betont, in Deutschland kaum wahrgenommen.
Insbesondere gilt das für jene jüdischen Positionen, die fordernd und wütend angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse formuliert werden. »Selbstermächtigung« ist daher auch programmatisch das Schwerpunktthema der ersten Ausgabe.
»Wut war auch eine Motivation, Jalta zu starten«, so von Haselberg zum programmatischen Titel des Magazins. Jalta ist der Name einer prominenten Frauenfigur des Babylonischen Talmud, die angesichts der Rolle, die ihr von einem talmudischen Gelehrten als Frau zugewiesen wurde, ihrer Wut freien Lauf ließ: »Als Jalta dies unterdessen hörte, stand sie zornig auf, ging in die Weinkammer und zerschlug vierhundert Krüge Wein.« Charlotte Elisheva Fonrobert beschreibt im einleitenden Artikel des Magazins Jalta als Figur des »Widerstands gegen Autorität, des Protests und des kritischen Hinterfragens von Exklusion«.
Gleichzeitig ist Jalta Bezugsfigur für eine Tradition des jüdischen Feminismus, deren Fortschreibung das Magazin auch sein will. »Als Jüdin gibt es auch heute noch genug Gründe, um wütend zu sein. Für feministische Positionen, gerade auch innerhalb der jüdischen Institutionen, muss immer noch gestritten werden«, sagt von Haselberg.
Die im Magazintitel angezeigte Programmatik feministischer Haltung wird auch die folgenden Ausgaben prägen. Anknüpfungspunkt sind Gruppierungen wie der lesbisch-feministische Schabbeskreis, der in den achtziger und neunziger Jahren eine Randposition innerhalb der deutschen feministischen Szene einnahm. Ursprünglich als Ort für Lesben entstanden, die in den jüdischen Gemeinden keinen Raum hatten, entwickelte der Kreis aufgrund der ablehnenden Reaktionen der deutschen Frauen- und Lesbenbewegung ein politisches Profil. Weil die Frauenbewegung das Judentum oftmals per se als Problem betrachtete, in ihm den Ursprung des Patriarchats verortete, und auch in dieser Szene das alte linke Problem des als Antizionismus getarnten Antisemitismus immer größer wurde, sah sich der Schabbeskreis gezwungen, auf diese Ausgrenzungen zu reagieren. »Großes Ziel wurde es, systematisch den Antisemitismus innerhalb der Frauen- und Lesbenbewegung und die Unsichtbarkeit von Jüdinnen aufzuzeigen«, schreibt Deborah Antmann in einem Beitrag über die Gruppe, die bis vor kurzem noch völlig vergessen war, obwohl ihr zeitweise prominente Personen wie die Regisseurin Chantal Akerman angehörten.
Auch hier wird das Anliegen von Jalta deutlich, bislang in der öffentlichen Diskussion fehlende Themen wie den Beitrag jüdischer Frauen zur Frauen- und Lesbenbewegung und die dort erfahrene Ablehnung aufzugreifen und zur Diskussion zu stellen. Es gehe nicht nur um die deutsche Mehrheitsgesellschaft, auch innerhalb des Judentums werde der Feminismus aus orthodox-religiöser Perspektive am liebsten totgeschwiegen. Ein Artikel in Jalta über die feministische Gruppierung Women of the Wall aus Israel beschreibt deren Kämpfe um »Teilhabe und Präsenz im religiösen Leben«, wie Ulrike Offenberg es formuliert. Women of the Wall stellen die starre Trennung der Geschlechter bei Gottesdiensten in Frage, vertreten letztlich lediglich Ansichten des liberalen Judentums und werden dafür in Israel von Ultraorthodoxen mit Morddrohungen bedacht.
Der Feminismus aus jüdischer Perspektive ist ein Leitmotiv von Jalta, ein weiteres ergibt sich ebenfalls durch die Wahl des Titels. Nachdem 2010 die letzte Ausgabe des Magazins Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart erschienen war, die seit 1986 ein Ort für intellektuelle Debatten der jüdischen Diaspora gewesen ist, verschwand diese jüdische Debattenkultur. Jalta knüpft auch an diese Tradition an, allerdings mit einer wichtigen Verschiebung der Perspektive. Stand Babylon für einen Blick zurück in die jüdische Geschichte, in die Zeit des babylonischen Exils, fokussiert Jalta auf die Gegenwart: Bei der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 legten Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin die europäische Nachkriegsordnung fest.
Und so will Jalta diese Nachkriegsordnung kritisch begleiten, und dabei nicht nur Themen der jüdischen Community in den Blick nehmen. Lea Wohl von Haselberg beschreibt als zentralen Antrieb, »Positionen von Aktivisten, wissenschaftliche Untersuchungen jüdischer Themen aus den unterschiedlichen Disziplinen, die vielen spannenden Ansätze aus dem Bereich der politischen Bildungsarbeit und auch künstlerische Positionen, das literarische und essayistische Schreiben und schließlich Perspektiven, die sich diesen Bereichen nicht eindeutig zuordnen lassen und quer zu Kategorien stehen«, zusammenzubringen.
Ein zentraler Artikel der ersten Ausgabe von Jalta trägt die Überschrift »Desintegration. Ein Manifest«. Verfasst wurde er von Max Czollek, einem Mitherausgeber des Magazins, der die Marginalisierung jüdischer Stimmen in Deutschland problematisiert.
Gleichzeitig ist das Manifest eine Kampfansage an die Mehrheitsgesellschaft, an die deutsche »Dominanzkultur«, der das Konzept der »Desintegration« entgegengesetzt wird, eine Verweigerung, weiter als Juden vom deutschen »Gedächtnistheater« instrumentalisiert zu werden: »Für unsere bereitwillige Übernahme der Judenrollen im Gedächtnistheater zahlen wir den Preis der Nicht-Repräsentierbarkeit jüdischer Vielfalt. Unsichtbar die sowjetischen Juden, deren Familien nicht aus Auschwitz befreit wurden, sondern die Auschwitz befreit haben.« Die Desintegration wird von Czollek verstanden als Rache, damit »die Tätergemeinschaft nicht zur Ruhe kommt«, die den Fokus weg von den Opfern und hin zum deutschen Begehren und dem deutschen Blick auf die Nachfahren der Opfer lenkt: »Wenn wir eure Juden sind, dann seid ihr unsere Kartoffeln. Desintegration bedeutet, sich nicht gebrauchen zu lassen, wenn Deutsche eine jüdisch-christliche Tradition erfinden.«
Zwar merkt man einigen Texten der ersten Ausgabe von Jalta die Suche nach einer Stimme und Haltung an, und ebenso sind nicht alle in gleicher Weise interessant. Die Wut jedoch, die der Titel bereits vorgibt, ist in vielen Beiträgen enthalten. »Desintegration« soll der Schwerpunkt der zweiten Ausgabe werden, die, wenn sie hält, was das Manifest zum Thema verspricht, dem Anspruch, andere jüdische Perspektiven auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu zeigen, als diese von Juden erwartet, mehr als gerecht werden dürfte: »Lasst uns wütend sein über die Selbstgerechtigkeit, mit der Deutsche das Ende ihrer Erinnerungswilligkeit verkünden. Über den ungehemmten Narzissmus, mit dem sie sich noch in ihrem Täterdasein inszenieren. Wütend über diese scheiß Fahne, die seit 2006 auf jedem scheiß Produkt zu finden ist. Wütend über diese Scheinheiligkeit, diesen Glauben, sie kämen so billig davon.«