Die Linke und die Armut

Wider den Kult um die Armut

Linke Kapitalismuskritik wird oft als Ablehnung von Reichtum missverstanden. Daran ist die Linke selbst schuld.

Von den vielen Lenin-Legenden geht meine liebste in etwa so: Lenin hält im kalten russischen Winter eine Rede vor Arbeitern. champagneNach der Agitation schreit ein Mann, der in einem dünnen Billig­sakko von der Stange friert, Lenin habe halt leicht lachen mit seiner schicken Jack-Wolfskin-Jacke und seinen warmen Adidas-Sneakers. Und was antwortet der weise Revolutionär? »Genosse, ich will nicht zu dir hinabsteigen, ich will, dass du zu mir heraufsteigst.«

Zu den dümmsten, der selbst für deutsche Verhältnisse vielen Dummheiten, die nach den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg geschrieben und gesagt wurden, gehört der Spott, mit dem manche jene Autonomen übergossen, die »Markenkleidung« trugen, sich ein iPhone gekrallt oder sonstige »Luxusgüter« angeeignet hatten. »Schaut, die dummen Linksradikalen wollen doch auch nur geiles Zeug besitzen, haha.« Über wenig kann sich der deutsche »Leistungsträger« so beömmeln wie über Kapitalismuskritiker, die nicht das seiner Ansicht nach für diese zwingende Armutsgelübde abgelegt haben. Daran trägt die Linke historisch gesehen eine gewisse Mitschuld.

Über wenig anderes kann sich der deutsche »Leistungsträger« so beömmeln wie über Kapitalismus­kritiker, die nicht das Armutsgelübde abgelegt haben.

Die Linke, also die »echte«, wollte nie Armut für alle. Sie wollte auch nicht, was Martin Schulz will, nämlich »harte Arbeit« für alle. Sie will ein möglichst gutes Leben für möglichst viele Menschen, weswegen die klügeren Linken Globalisierung und Automatisierung nicht bejammern, sondern sich für jeden Menschen in Asien, Afrika oder Lateinamerika, der es dank Weltmarkt vom potentiellen Opfer des Hungertodes zum Arbeiter mit festem Einkommen und gefülltem Kühlschrank bringt, ebenso freut wie über die Perspektive, dass immer mehr eintönige und gefährliche Arbeiten von Maschinen übernommen werden. Im Unterschied zu Liberalen meinen Linke nicht, mit der Einbeziehung des globalen Südens in die globalen Produktionsverhältnisse sei der Gipfel der menschlichen Entwicklung erklommen und die von Software verdrängten Arbeiterinnen und Arbeiter sollten einfach Start-up-Unternehmen gründen oder sich in Luft auflösen. Sie begrüßt den Fortschritt in Produktion und Technik sowie die internationale Vernetzung, da sie darin die Voraussetzung dafür erkennt, den Menschen aus unmittelbarem Elend zu retten und ihn vom Zwang zu befreien, seine Lebenszeit zu verkaufen.

Es gab aber immer andere Linke, die Armut glorifizierten und die Arbeit genannte Schinderei zum Wert an sich erklärten. Aus der völlig richtigen Erkenntnis, dass die Menschheit ohne Arbeit und Arbeiter bestenfalls eine Affenart unter vielen geblieben wäre, Arbeiter im Kapitalismus aber dennoch wie Dreck behandelt wurden, leitete die frühe Arbeiterbewegung ab, dass da ja wohl etwas nicht ganz im Lot sei. Ohne Arbeiter könnten die Kapitalisten ihren schönen Produktionsmitteln beim Verrosten zuschauen, weswegen die wahre Macht in den Händen der Arbeiter läge.

Die Welt, das war damals Westeuropa, Großbritannien und die USA. Würde man in diesen Gebieten die Herrschaft der besitzenden Klasse brechen, hätte man die Weltrevolution praktisch in der Tasche. Da aus der Revolution in Westeuropa bekanntlich nichts wurde, die Sowjetunion daher ihren elenden Sozialismus in einem Land praktizieren musste und der Faschismus auf den Plan trat, ahnte die Linke, dass sie eine historische Chance verpasst hatte. Umso stolzer sang man Arbeiterlieder, umso inbrünstiger beschwor man die Macht der Fabrik, obwohl sich die Macht der Gewehre bereits abzeichnete. Bei den Sowjets tat man so, als herrschte die Arbeiterklasse, verheizte aber nur die Menschen bei der industriellen Aufholjagd, wofür man hübsche Orden an die Überlebenden verteilte, und sorgte später dafür, dass die Arbeiter sich nach Kräften langweilten, da wegen des Rechts auf Arbeit fast jeder Posten doppelt und dreifach besetzt war. Ein Konzept übrigens, dass die Sozialdemokratie mit ökonomisch sinnlosen Ein-Euro-Jobs und Modellen für »gemeinnützige Arbeit« wiederentdeckt hat. Je weiter die reale Macht der Arbeiter entfernt war, desto trotziger setzte man auf Proletenkult sowie kulturalisiertes – und somit falsches – Klassenbewusstsein.

Das hatte die groteske Folge, dass seit den sechziger und siebziger Jahre linke oder sich links dünkende Kids aus der Oberschicht sich mühten, Habitus und Aussehen dessen nachzuahmen, was sie für proletarisch hielten. Armut wurde romantisiert und Besitz galt als schändlich.

Während Menschen, die in ärmlichen Verhältnisse aufwachsen, froh sind, sich nach Antritt einer bezahlten Arbeit endlich eine eigene Wohnung leisten zu können, finden es jene, die sich nie ein aus materiellen Zwängen heraus ein Zimmer mit anderen teilen mussten, schick, in Kommunen ein bisschen »Sozialismus« zu spielen. Aber die vermeintliche bohème, das Containern und das Tragen von Secondhand-Kleidung, die ständige Ungewissheit, die nächste Stromrechnung bezahlen zu können – all das verliert an Reiz, hat man die 30 überschritten. Wer gar Kinder bekommt und diese womöglich noch alleine großzieht, lernt rasch die wahre Bedeutung von Armut zu verstehen. Dennoch hält sich hartnäckig das nicht zuletzt auch religiöser Hirnverkleisterung geschuldete Gerücht, materieller Mangel sei moralisch gut und Armut daher Voraussetzung, wahrhaft links zu sein. Dass dies wider alle Evidenz bis heute nicht als Wahnvorstellung enttarnt wurde, liegt auch daran, dass es für spätkapitalistische Ausbeutungsverhältnisse sehr nützlich ist.

Die Umdeutung von Prekariat zu Freiheit, von Armut zu Edelmut, von Tretmühle zu Fitnessgerät kommt einer herrschenden Klasse sehr zupass, die die sozialstaatlichen Errungenschaften Schritt für Schritt wieder einkassiert und die für ihre just in time-Produktion Arbeitskräfte braucht, die ewige Selbstausbeutung und ewiges Ausgebeutetwerden ohne Aussicht auf eine entscheidende Verbesserung des Lebensstandards ertragen, weil sie das als schick verkauft bekommen. Noch der Supermarktkassierer und die freie Journalistin sollen das Arbeitsethos der Start-ups übernehmen, das in etwa so geht: Man arbeitet ein paar Jahre lang rund um die Uhr und hofft, dass Google oder Amazon einem danach zehn Millionen Dollar überweisen. Was schon für echte Start-up-Unternehmer eine Lotterie ist, da 19 von 20 Start-ups bald zu End-ups werden, ist für die Arbeiterin nichts als Hohn, denn in ihrem Fall ist die Karotte, die man ihr vor die Nase hält, lediglich eine Attrappe.