Wer braucht schon Linke? Die Grünen wählen sich eine »Realo«-Doppelspitze

Alkoholfrei in die grüne Zukunft

Seite 2 – Linke Grüne nicht besonders unglücklich

 

Eine Delegierte aus Nordrhein-Westfalen, die nicht namentlich genannt werden will, kommentiert die Habeck-Show säuerlich: »Mit Satzungen spielt man nicht.« In eine ähnliche Richtung geht auch die Begründung des Delegierten, der für eine dreimonatige Übergangsfrist plädiert: Man könne nicht bloß wegen Habeck die Parteisatzung ändern und solle sich bewusst sein, wie viel in acht Monaten politisch passieren könne. Nach der Stimmabgabe steht fest: Habeck bekommt seine Satzungsänderung; er darf für acht Monate ­Minister in Schleswig-Holstein und Vorsitzender der Grünen sein. Die Entscheidung fällt um halb zwölf. Noch bis zwei Uhr in der Nacht sitzen der ­»Realoflügel« und der »linke Flügel« getrennt voneinander. Sie debattieren über das Ergebnis und die Frage, wer am nächsten Tag in die Doppelspitze der Partei gewählt werden soll.

Der Samstag verläuft unspektakulär. Habeck wird mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt. Von den fast 800 Delegierten stimmen nur knapp 150 gegen ihn oder enthalten sich. Im Kampf um den Frauenplatz in der Doppelspitze macht es die Linke Anja Piel der Kandidatin der »Realos«, Annalena Baerbock, leicht. Piel hält keine starke Rede, bekommt Probleme mit ihrer Stimme und krächzt irgendwann nur noch. Baerbock hingegen spielt aus, dass sie aus dem Osten kommt, wo die Grünen schwach sind, und schafft es mit einer emotionalen Geschichte über eine Flüchtlingsfamilie, der sie geholfen habe, die Delegierten zu gewinnen – und das mit überwältigender Mehrheit. Sie erhält 504 Stimmen. Damit stehen erstmals zwei »Realos« an der Spitze der Grünen. Vorher hatte die Partei stets darauf geachtet, beide Flügel in der Parteispitze zu ­repräsentieren.

Viele eher linke Grüne wirken dennoch nicht besonders unglücklich. Sie sprechen von Themen, für die man auch »Robert« und »Annalena« gewinnen könne. Viele scheinen vor allem froh darüber zu sein, dass die FDP sie davor bewahrt hat, im Bund in eine »Jamaika-Koalition« einzutreten. Mit den Unionsparteien und der FDP zu regieren und zahlreiche unangenehme Entscheidungen mitzu­tragen, hätte der  Mehrheit der Grünen nicht behagt. Zudem hat sich der Konflikt zwischen den Flügeln in der Partei in den vergangenen Jahren deutlich entschärft. Selbst Grüne, die sich auch einmal gegen Nazis auf die Straße setzen, sind unter Umständen bei der Frage nach dem Familiennachzug von Flüchtlingen zu Kompromissen mit CDU und CSU bereit. Auf der anderen Seite ist mancher, der in der Flüchtlingspolitik nicht zu solchen Zugeständnissen bereit ist, bei Fragen nach dem Kohleausstieg nachgiebig.

Baerbock und Habeck dürfte es angesichts dieser allgemeinen Kompromissfreudigkeit gelingen, die Basis der Grünen vorerst an sich zu binden. ­Weniger einträchtig könnte es allerdings zugehen, wenn an den Landesregierungen beteiligte Grüne unliebsame Entscheidungen im Bundesrat verantworten müssen. Die Politik dieser Kollegen könnte dann schneller auf Baerbock und Habeck zurückfallen, als die Stimmung des Parteitags vermuten lässt.