Das neue Album von Dedekind Cut

Vertrackte Fahrstuhlmusik

Ambient ist verschrien als belangloses Gedudel. Einer der Vertreter des Genres, Dedekind Cut, zeigt auch auf seinem neuen Album, dass Ambient nicht einfach nur simple Hintergrundmusik ist.

Gäbe es eine Rangliste der unaufdringlichsten und am wenigsten »unbequemen« musikalischen Genres, wäre die Besetzung der Spitzenposition wohl unstreitig. Das Genre, das wahrscheinlich den meisten dazu einfiele, dürfte Ambient sein. Nicht zuletzt dank unzähliger un­säglicher Sampler mit »Entspannungssounds für die Yogastunde« oder »Sounds of Nature« (»Diese ­besondere CD lädt Sie zu einer beschaulichen mentalen Reise durch idyllische Landschaften ein«) mit plätscherndem Synthesizergedudel wird das Genre geradezu als die ­Definition von Wartehallenmusik und unauffälliger Hintergrund­beschallung wahrgenommen.

Dabei hatte Brian Eno, britischer Experimentalmusiker und ehemaliges Bandmitglied von Roxy Music, ganz anderes im Sinn, als er dem Genre mit der Veröffentlichung von »Ambient 1 (Music for Airports)« 1978 den Namen gab. In den Liner Notes wendet er sich ganz explizit ­gegen die Fahrstuhlmusik, die seit den fünfziger Jahren von der Firma Muzak als leicht bekömmliches Gedudel produziert und vertrieben wurde. Eno kritisierte, dass diese Musik nur dazu diene, Umgebungen und Orte zu »regulieren«, wobei deren akustische und atmosphärische Eigenheiten übertüncht würden. Dahinter stehe das Ziel, unwirtliche Orte, wie eben Fahrstühle und Kantinen in Bürogebäuden oder Einkaufszentren, ertragbar zu machen und so die Beanspruchung durch monotone Arbeit zu mindern. Ambient war für Eno eine Antwort auf die verdummende Musik von Muzak.

 

Veröffentlichungen von Dedekind Cut wollen am Stück gehört werden. Es gibt immer wieder Momente und Tracks, die hervorstechen, aber erst über die gesamte Dauer zeigt sich, wie sorgfältig hier eine Dramaturgie entworfen wird.

 

Während deren Hintergrundgedudel jede Art von Zweifel und Unsicherheit über­tönen sollte, wollte Ambient sie gerade erhalten. Ambient sollte zwar ­beruhigen, dadurch aber Raum zum Denken schaffen. In diesem Sinne ist Enos abschließender Satz gemeint, Ambientmusik müsse ebenso ignoriert werden können, wie sie interessant sein sollte. Ambientmusik ist von Beginn an geprägt von der Spannung zwischen diesen beiden Vor­gaben: Unaufdringliches Hintergrundgeplätscher auf der einen Seite und komplexe Musik, die eher auf Texturen und Atmosphären denn auf Melodie und Rhythmus aufbaut, auf der anderen.

In den vergangenen Jahren ist nun kaum ein Genre so sehr in Bewegung geraten wie Ambient, und dabei spielen nach wie vor beide Vorgaben eine Rolle. Der Markt für Entspannungsmusik dürfte wahrscheinlich stärker boomen denn je, aber auch wer nach interessanterer Musik sucht, die unter dem Label »Ambient« firmiert, wird sehr Unterschiedliches finden.

Da gibt es zum einen die dronigen Synthesizer-Kompositionen von Alessandro Cortini, die durch ihr treibendes, rhythmisches Fundament und die melodischen Muster an den Genredefinitionen rütteln – extrem geschmackssicher, aber harmonisch letztlich auch recht gewöhnlich. Nennen ließen sich auch Huerco S., der mit seinem letzten Album von avanciertem Techno zu schöngeistig dahingetupften Ambientsounds umgeschwenkt ist, oder der geheimnisvolle schwedische Produzent, der unter dem Kürzel 1991 veröffentlicht und nach einigen hypnagogischen Veröffentlichungen zuletzt ein astreines Ambientalbum vorgelegt hat. Dass das Genre momentan arg in Mode ist, dürfte nicht zuletzt eine Compilation namens »Mono No Aware« be­legen, die im vorigen Jahr auf dem Berliner Label Pan erschienen ist.

Die interessanteste Figur unter den Ambientproduzenten der letzten Jahre dürfte aber Fred Welton Warmsley III sein. Der amerikanische Mu­siker hatte sich seit etwa 2010 unter dem Pseudonym Lee Bannon als Produzent von progressiven Beats einen Namen gemacht, was ihn mit Joey Bada Dollar Dollar und dem HipHop-Kollektiv Pro Era in Kontakt brachte, als deren Tour-DJ er 2012 unterwegs war. Ein selbstveröffentlichtes Album namens »NW / WB« mit kräftigen Drum-and-Bass-Einflüssen sorgte 2013 für Aufsehen und brachte Bannon einen Vertrag bei dem Label Ninja Tune ein. Zu seinem zweiten Longplayer »Pattern of Excel« verkündete Bannon dann 2015, dass der Name, unter dem er Musik produziert hatte, seitdem er 17 war, ausgedient habe. Er werde sich von nun an »¬ Bannon« nennen, was »Nichtbannon« bedeutet und seine Vorliebe für mathematisch-logische Namen demonstriert. Allerdings blieb Warmsley nicht lange Nichtbannon. Die nächste Umbenennung brachte noch im gleichen Jahr den bis heute gültigen Namen Dedekind Cut, der ebenfalls aus der mathematischen Ordnungstheorie stammt.

Auch wenn die Ankündigung, für das Bannon-Pseudonym sei »in der Zukunft« einfach kein Platz mehr gewesen, etwas altklug geklungen ­haben mag, markiert der zweite Namenswechsel für Warmsley einen stilistischen Einschnitt. Unter dem neuen Alias hat er eine eigene Spielart von avantgardistischem Ambient entwickelt und ist in den letzten Jahren extrem produktiv gewesen. Von Dedekind Cut sind seit 2015 mehrere lange EPs und ein Album erschienen, an denen Musiker und Musikerinnen wie Chino Amobie (der das hervorragende Label Non-Records betreibt), Dominick Fernow (aka Prurient/Vatican Shadow), Mica Levi oder der Schlagzeuger von Lightning  Bolt und Death Grips, Zack Hill, mitgewirkt haben. Labelgerechte Marketingstrategien sind Warmsley dabei offenbar ziemlich egal. Jedenfalls kann es durchaus vorkommen, dass er eine EP zum Gratis-Download ­anbietet, die dann kurz darauf wieder aus dem Netz verschwindet, nur um ein halbes Jahr später quasi als »alter Hut« auf Vinyl veröffentlicht zu werden, wie voriges Jahr im Fall von »The Expanding Domain«.

Diese EP und das 2016 erschienene Album »Dollaruccessor« sind die bisher spannendsten Veröffentlichungen von Warmsley als Dedekind Cut. Hier werden scheinbar mühelos Ambientflächen mit polternden Indus­trialbeats und seltsamen Sprachsamples verklebt, ohne dass das Ergebnis nach überambitionierter Kunstmusik klänge.

Und wenn die Bezeichnung Ambient hier irgendwie noch als Orientierung herhalten kann, so werden Genredefinitionen doch über die gesamte Spieldauer bis an die Ränder zerdehnt. Überhaupt wollen Veröffentlichungen von Dedekind Cut am Stück gehört werden. Es gibt immer wieder Momente und Tracks, die hervorstechen, aber erst über die gesamte Dauer zeigt sich, wie sorgfältig hier eine Dramaturgie entworfen wird. »The Expanding Domain« soll laut Liner Notes in der Tat wie ein Loop gehört werden, so dass das Ende wieder an den Anfang anschließt. Mit eskapistischer Hintergrundmusik hat das alles nichts zu tun. »Dollaruccessor« hat auch eines der besten Albumcover der letzten Jahre: Das Foto zeigt vor fast komplett nächtlichschwarzem Hintergrund zwei afroamerikanische Cowboys auf ihren Pferden und weist damit auch darauf hin, dass die Musik, um die es hier geht, eine Tradition besitzt, die fast ausschließlich von weißen Männern und ihren Synthesizern geprägt wurde.

Mit dem neuen Album »Tahoe«, das auf dem Label Kranky erscheint, lässt Warmsley es ruhiger angehen. Die aggressiven Ausbrüche der vorherigen Veröffentlichungen klingen in den Disharmonien von »Spiral« oder den kalten Soundgebilden von »Hollow Earth« noch nach, aber insgesamt ist die Musik viel weniger konfrontativ als zuvor. Eskapistische Entspannungssounds zum besseren Arbeiten, wie Eno sie angegriffen hatte, finden sich hier allerdings nicht. »Tahoe« fordert aufmerksames Hinhören und so ist es ohne zum schöngeistigen Geplätscher zu verkommen, vielleicht das erste »richtige« Ambientalbum von Dedekind Cut.

 

Dedekind Cut: Tahoe (Kranky)