Der illegale Abbau von Sand hat in Indien schwerwiegende Folgen für die Umwelt

Der Kampf um den Sand

Seite 2 – Umweltschützer leben gefährlich
Reportage Von


Das südlich von Mumbai gelegene Dorf Kihim nahe der Stadt Alibag ist schon lange ein beliebtes Wochen­endziel der Mittelschicht Mumbais. Privatvillen und Hotels verstecken sich hier zwischen dichten, tiefgrünen ­Palmen- und Nadelwäldern. Ein Sandstrand lädt zum Baden im Arabischen Meer ein. Im Mai 2004 bemerkte die aus Mumbai stammende Umweltschützerin Sumaira Abdulali zum ersten Mal, dass Sand vom Kihim Beach entfernt wurde. Als sie eines Nachts erneut die Motoren der Lastwägen hörte, rief sie die Polizei und fuhr mit ihrem eigenen Auto zum Strand. Doch die Polizei ließ auf sich warten. Dafür emp­fingen sie einige junge Männer, die schnell handgreiflich wurden. »Sie zerrten mich aus dem Auto und schlugen mich zu Boden. Anschließend zerstörten sie die Scheiben meines Autos und drohten mir mit Schlimmerem, falls ich weiter Ärger machen sollte«, berichtet Abdulali. Die anschließende Festnahme der Angreifer ergab, dass unter ihnen der Sohn eines einflussreichen Regionalpolitikers war. Alle Angeklagten wurden später aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Für Abdulali war dies ein Grund, aktiv zu werden. 2006 gründete sie die Nichtregierungsorganisation Awaaz Foundation. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, Politik und Öffentlichkeit für die dringenden ökologischen Probleme Indiens zu sensibilisieren.

Doch der Bedarf an Sand hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Die indische Wirtschaft boomt mit Wachstumsraten bis zu 7,2 Prozent im vierten Quartal 2017 und hat damit zum wiederholten Mal selbst China überholt. Der anhaltende Bauboom führt insbesondere in Indien zu einer Zunahme des Sandraubbaus. Die Gewinnspanne, die mit dem illegalen Abbau des überall frei verfügbaren Sandes erwirtschaftet wird, macht die Umgehung der bestehenden Gesetze attraktiv. Je höher der Gewinn, umso mehr einflussreiche Entscheidungsträger können bestochen werden. Zudem sind viele Menschen an diesem Prozess beteiligt. Da sind zum einen die lokalen Arbeiter, die für einen schmalen Lohn ihre Arbeitskraft verkaufen. Baufirmen stellen schweres Gerät wie Lastwägen und Schaufelbagger bereit. Es braucht Initiatoren, die Arbeiter anwerben und den Ablauf koordinieren, Mittelsmänner, die den Sand später an Baufirmen verkaufen, und Politiker und Polizisten, die von einigen oder allen vorher genannten Schmiergelder beziehen.

Der Bauer Paleram Chauhan aus Raipur Khadar, einem Dorf südlich von Delhi, hatte den Mut, sich diesem verzweigten System entgegenzustellen. Auf den Feldern der dörflichen Kooperative begann eine Gruppe junger Männer damit, die fruchtbare Erde abzutragen, um an den darunterliegenden Sand zu kommen. Niemand traute sich, gegen die aggressiv auftretenden Männer vorzugehen, die aus dem eigenen Dorf stammten. Chauhan rief immer wieder die Polizei, die jedoch untätig blieb. Er forderte die Behörden zum Handeln auf und reichte Beschwerden bei Gericht ein. Nichts passierte.

Stattdessen wurden der 52jährige und seine Familie bedroht und angegangen. Anfang 2013 kam einer der Anführer der Gruppe deswegen kurzzeitig in Haft. We­nige Wochen später wurde Chauhan am helllichten Tag in seiner Wohnung ­erschossen. Des Mordes angeklagt kamen der Anführer, dessen Bruder und deren Vater in Haft, wurden jedoch wenig später auf Kaution freigelassen. Der Sandraub auf dem Gebiet der Kooperative geht ungestört weiter, während die Anklage in den langsamen Mühlen der indischen Justiz steckt.

 

Vorhersehbare Katastrophe

Die ökologischen Folgen dieses jahrelangen Raubbaus sind überall sichtbar. Der einst breite, helle Sand von Kihim Beach ist größtenteils einem grauen Lehmboden gewichen. Im ostindischen Odisha bröckelt das in Jahrhunderten geformte Ufer des Flusses Subarnarekha, was nahegelegene Siedlungen bedroht. Trotzdem wird das Material aus dem Flussbett weiterhin mit leistungsstarken Pumpen zutage gefördert und abtransportiert. In Maharashtra stürzte am 2. August 2016 eine vielbefahrene Schnellstraßenbrücke zwischen Mumbai und Goa ein, nachdem es wiederholt zu Sandraub flussaufwärts der Brückenfundamente gekommen war. 29 Menschen starben dabei.

Sumaira Abdulali befürchtet, dass auch die Vaitarna-Zugbrücke im Norden Mumbais einsturzgefährdet ist. »Beinahe jede Nacht wird hier mit Pumpschiffen Sand aus dem Flussbett gestohlen«, sagt sie. »Dabei rollen hier Tag und Nacht vollbesetzte Züge über die Brücke.« Sie ärgert sich über die vorhersehbare Katastrophe. »Am helllichten Tag transportieren die Lastwagen den Sand zu den Baustellen, vorbei an Polizeikontrollen, die die Lastwagen nur gelangweilt durchwinken«, fährt Abdulali fort. Ein Einsturz würde die Hauptstrecke zwischen Mumbai und Delhi unterbrechen.

In Thane machen sich gegen Mittag die ersten Boote auf den Weg zurück zum Anleger. Mühsam kämpft der laute Dieselmotor gegen die Strömung. Die Boote sind randvoll mit schwarzem Sand gefüllt, der umständlich mit großen, schalenförmigen Behältnissen entladen werden muss. Über schmale Planken balancieren die Arbeiter die Ware auf dem Kopf von Bord. Radhesyam Sahni telefoniert mit seinen beiden Kindern. Anfang Juni, zu Beginn der Regenzeit, werde er wieder bei ­ihnen in Maharashtra sein. »Sie fragen jeden Tag, was ich ihnen aus der ­großen Stadt mitbringe«, erzählt er.

Viele indische Umweltschützer und Journalisten beklagen, dass sie sich durch ihre Recherchen in Gefahr begäben. Die Untätigkeit der lokalen Behörden und der Polizei bei der Verhinderung und Aufklärung der Übergriffe legt nahe, dass viele selbst in den Sandraub verstrickt sind. Im März wurde der Journalist Sandeep Sharma auf seinem Motorrad von einem mit Sand ­beladenen Lastwagen überrollt. Aufnahmen aus einer Überwachungskamera zeigen deutlich, wie der Fahrer des Wagens gezielt den Motorradfahrer überfährt. Sharma hatte angekündigt, belastendes Videomaterial über einen Bestechungsvorfall zu veröffentlichen. Darin soll ein lokaler Politiker einer Schmiergeldzahlung über illegalen Sandraub zugestimmt haben. Sharma erhielt daraufhin mehrere Morddrohungen. Wenige Tage vor dem Unfall wurde ihm Polizeischutz verwehrt und stattdessen seine Kamera kon­fisziert.

Doch der Widerstand wächst. Die Zeitungen sind voll von Berichten über Sandraub. Politiker überbieten sich ­gegenseitig mit Ankündigungen, wie sie mit entschlossenem Handeln gegen den Raubbau an der Natur vorgehen wollen. Der Kampf um die natür­liche Ressource Sand ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. »Im Grunde ist es eine Sache von Angebot und Nachfrage. Das Angebot des Sandes ist endlich, die Nachfrage ist es anscheinend nicht«, sagt Abdulali. »Aber so weit darf es nicht kommen. Wir brauchen jetzt eine Alternative.« Ihr Blick gleitet einen Moment über den achtlos weg­geworfenen Müll neben der Straße. »Am Besten irgendwas aus Plastik«, fügt sie hinzu.