Dem Musiker Genesis Breyer P-Orridge ging es nie um Moral, sondern um radikale Freigeistigkeit

Zwischen Schöpfung und Haferschleim

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Throbbing Gristle hatten in den Siebzigern immer größere Konzerte gespielt und auf ihren Touren bald das Vereinigte Königreich verlassen. Die von ihnen veröffentlichten Platten waren (wie später auch bei der Nachfolgeband Psychic TV) meist Dokumentationen von Performances, Hybride aus Live-Ma­terial und Studio-Experimenten, sogenannte Reports – ein Prinzip, dass sich auch in Videomitschnitten der Auftritte niederschlug, in denen sowohl Live-Band als auch Projek­tion gefilmt wurden. Durch diese ­Arbeitsweisen entstanden transmediale Arbeiten, lange bevor derlei ­Begriffe überhaupt diskutiert wurden. Sogar einen Chart-Hit landeten Throbbing Gristle mit dem peitschenden »Hot on the Heels of Love«, obwohl die Mitglieder mit bewusstem Dilettantismus und intensiver Klangforschung stets die Konven­tionen einer herkömmlichen Bandkonstellation sprengten und auf Konzerten – über frühe Headsets verbunden – mehr an Erfinder erinnerten als an Musiker. Der wie wahnwitzig darbietende Genesis P-Orridge konterkarierte dieses Bild dann doch, indem er sich meist unter ­Integration des Publikums in völliger Ekstase der Performance hingab und der strategischen Unterkühlung entgegenwirkte.

Dabei verstanden sich die Mitglieder von Throbbing Gristle unter­einander nicht immer besonders gut. Der erste umfangreiche Rückblick auf die Band und die vorhergehende Künstlergruppe, das Buch »Wreckers of Civilisation« von Simon Ford, erzählt gar von Plänen P-Orridges, auf der Bühne zu sterben, auch weil er die Trennung von Cosey Fanni Tutti nicht verkraftete. Throbbing Gristle waren ein Feuer, das schnell verlosch: Die Band löste sich 1981 in San Francisco auf. Sie hatten eine Rou­tine entwickelt in dem, was sie taten – und das reizte die Gruppe nicht mehr. Es ging ihnen immer um Bewegung, in der Band stagnierten sie.

Aus den Überresten von Throbbing Gristle gingen Coil (Peter Christopherson), Chris and Cosey (Carter und Tutti, bis heute ein Paar) und Psychic TV hervor, in letzterer Band war nicht nur P-Orridge, sondern auch Christopherson eine Zeit lang Mitglied. Psychic TV gelang zweierlei: Mit teilweise illustren Gästen aus der Musikwelt wie Soft-Cell-Sänger Marc Almond nahmen sie neben verstörenden Klangexperimenten auch strahlende Popsongs auf. Die Gruppe, die mit einigen Unterbrechungen bis heute existiert, wandte sich auf den Studioalben dabei ­Themen zu, die vor allem P-Orridge interessierten. Charles Manson, Aleister Crowley, Okkultismus, Schamanismus, kurz: das Programm ­einer Sekte. Solch eine gründete Genesis P-Orridge dann auch zur selben Zeit, der »Temple Ov Psychick Youth«, der bisweilen eine Anhängerschar von über 10 000 Jüngern vorweisen konnte. Über dezentrale Untergruppen wurden diese in der Form von regelmäßigen Bulletins mit den neuesten Erlassen und Produkten ihres Gurus vertraut gemacht und trugen einen hedonistischen Anarchismus in die Welt. Apologeten gibt es bis heute, wenn sie auch mehr ein Erbe zu verwalten scheinen, als dass sie Neues hervorbrächten.

In den folgenden Jahrzehnten waren Psychic TV, die sowohl personell als auch ästhetisch einige radikale Veränderungen erlebten, immer dort, wo musikalisch etwas Neues entstand, trugen bisweilen sogar maßgeblich zu popkulturellen Innova­tionen bei. Neofolk ging durch ihre Hände, Spoken Word und Acid House. Nur das Transmediale und Genesis P-Orridge blieben als Konstanten, doch auch dieser sollte sich bald radikal verändern.

Es ließen sich noch unzählige weitere und bisweilen äußerst abenteuerliche Stationen dieses extremen Künstlerlebens erzählen, das schon angesprochene »Exil« in Kalifor­nien oder der Brand, der sich im Haus des Musikproduzenten Rick Rubin ereignete und P-Orridge zwang, sich nach dabei zugezogenen schweren Knochenbrüchen und Verbrennungen einer langen Rekonvaleszenz zu unterziehen: Sein Leben ist, neben der Radikalität, von einer Menge Tragik bestimmt.

Nach dem Brand in Rubins Haus vollzog sich der wohl sichtbarste Wandel in der Biographie des Künstlers. Er begann gemeinsam mit seiner neuen Partnerin Lady Jaye Breyer, einer New Yorker Domina, deren Dienste Genesis zu beanspruchen pflegte, mit dem Projekt »S/He«, das darin bestand, dass sich die Liebenden durch Schönheitsoperationen körperlich immer mehr aneinander anglichen – eine beinahe logische Konsequenz aus den Geschlechterexperimenten, mit denen sich P-Orridge bereits zur Anfangszeit von COUM Transmissions beschäftigte. Letztlich steckt in diesem Prozess erneut ein Kerngedanke Burroughs’: So ist die Geschlechts­verwandlung, nämlich einen Körper zu erschaffen, der gleichsam männ­liche wie weibliche Merkmale trägt, nichts anderes als die fleischgewor­dene Umsetzung der Cut-up-Technik des Autors von »Queer«. 2007 verstarb Lady Jaye an Krebs, Genesis Breyer P-Orridge trägt seitdem nicht nur ihren Namen weiter, sondern spricht permanent in der ersten Person Plural von »Wir«.

Ein Leben, das Spuren hinterlassen hat; in unzähligen Publikationen und Museumsausstellungen, in der Avantgarde, in der Popwelt, im Werk diverser Kunstschaffender, die P-Orridge nacheifern – aber auch in der Gesundheit des Ausnahmekünstlers. Im vergangenen Jahr wurde bei dem mittlerweile in New York ­Lebenden Leukämie diagnostiziert, seitdem kämpft »S/He« gegen die Krankheit, ungeachtet seines Bankrotts und der deutlichen Abkehr einstiger Wegbegleiter (Cosey Fanni Tuttis sehr lesenswerte, 2017 erschienene Autobiografie »Art Sex Music« gleicht stellenweise einer Abrechnung und zeichnet das Bild eines Egomanen). Es bleibt zu hoffen, dass die Nachrufe auf diesen Ausnahmekünstler noch sehr lange auf sich warten lassen. Genesis Breyer P-Orridge sollte lebend gefeiert werden, mit all seinen Widersprüchen.