ჯუნგლები - Ein Besuch im Stalin-Museum in Gori

Der Sockel steht noch

Seite 2 – Historisches Verwirrspiel

Nachdem Nikita Chruschtschow 1956 in seiner »Geheimen Rede« den Personenkult und die vielen Verbrechen des Stalinismus verurteilt hatte, kam es in ganz Georgien zu großen Protesten. Zehntausende trugen Trauerkränze und Porträts von Stalin durch die Straßen, sie verlangten lauthals den Rücktritt Chruschtschows, bis die Armee die Demons­trationen gewaltsam auflöste und etwa 100 Menschen erschoss. »Georgien war Kolonie Russlands, und Stalin beherrschte Russland«, fasst Lascha Bakradze, der Direktor des ­Literaturmuseums Tiflis, dieses historische Verwirrspiel zusammen. Ist das Dialektik?

In einem hübsch durchgrünten Viertel südlich des Stadtzentrums von Tiflis versteckt sich noch ein Relikt des Stalinkults. Es ist ebenfalls ein Museum, exakt an jener Stelle errichtet, wo Stalin 1906 im Keller eines Hauses kommunistische Pamphlete und antizaristische Literatur druckte. Versteckt zwischen nicht sonderlich legal wirkenden Autowerkstätten erkennt man stromlinienförmige Backsteingebäude, deren zukunftsweisender, von nationalem Ballast befreiter Modernismus ganz und gar nicht im Sinne des hier geehrten Stalins war. Efeu und anderes Gewächs beginnt, sich der Fassade zu bemäch­tigen, einzelne Ziegel sind bereits heruntergefallen, das Museum zerfällt. Die Behörden verweigern ihm finanzielle Unterstützung.

Vielleicht verschwände es ganz von allein – wäre da nicht Jules. Der ältere Herr sitzt auf der Treppe vor dem Backsteingebäude und bittet zur Führung. Er spricht nur Georgisch und Russisch, doch Russisch ist glücklicherweise reich an lateinischen und deutschen Lehnwörtern, ein wenig versteht man also. Jules ist die Nummer fünf der Kommunistischen Partei Georgiens, er betreibt das Museum ehrenamtlich. Nur um eine Spende für die Partei bittet er, und fällt sie nicht hoch genug aus, bittet er noch einmal.

Jules weiß von den ruhmreichen Taten Stalins zu berichten: Hier habe Stalin mit Hilfe einer ­alten Druckmaschine gegen den Zaren gewirkt, versteckt im selbst ausge­hobenen Keller eines schmucken Holzhauses, das als Nachbau im Hof des Museums steht. Die Frauen, so berichtet Jules, hätten auf der Veranda Ausschau gehalten. Sei ein Polizist vorbeigegangen, hätten sie mit einer Glocke gebimmelt und die Revolu­tionäre zwanzig Meter unter dem Boden innegehalten. Es habe jedoch ­alles nichts genutzt: Ein Genosse habe die Revolutionäre an die Geheim­polizei verraten, die das Haus niedergebrannt und Stalin nach Sibirien verfrachtet hätten, so Jules.

Durch einen engen Schacht gelangt man zur verrosteten Maschine, die Jules zufolge 125 Jahre alt ist, aber – deutsche Wertarbeit, wie er versichert – noch funktioniere. Man wolle bestimmt ein Foto mit der berühmten Maschine machen, gibt Jules zu verstehen, und danach ein Bild im Holzhaus, auch vor dem Poster Stalins, und mit dem Bett, in dem er geschlafen habe, ohnehin, mit seinen Büchern, neben dem Schreibtisch, an dem er gearbeitet habe – mit all dem kann man sich zusammen ablichten lassen. Die Führung endet in einem Raum voller Devo­tionalien, Porträts, Fotos und einer wandfüllenden Karte der Sowjetunion. Jules redet sich in Rage, zu verstehen sind nur Namen und immer wieder das Wort Konterrevolution. Was hält Jules denn von Chruschtschow? Grimasse, Daumen runter. Und Gorbatschow? Noch schlimmer, der Vernichter der Sowjetunion. Lenin, Stalin? Da strahlt er wieder und geleitet die Besucher zum Gästebuch. Es sei bereits das zweite in diesem Jahr, berichtet Jules stolz. Das erste sei schon mit Lobesbekundungen chinesischer Reisegruppen gefüllt.