Nacktheit im Zeitalter des Digitalen

Penis für alle

Das Versprechen war groß: Das Internet wollte nicht nur eine neue Ära der Kommunikation, sondern auch eine neue Ära der Sexualität einleiten. Doch statt Cybersex kamen Penisbilder.

Immerhin, die Frage, was zuerst da war, das Internet oder der nackte Mensch, muss nicht gestellt werden. Doch die Aussicht, nach Herzenslust Nackige zu sehen, war ein nicht unwichtiger Grund für den massenhaften Wunsch, nun auch »Ich bin drin« rufen zu können, wie es vor genau 20 Jahren Boris Becker in der AOL-Werbung tat. Und natürlich der Wusch nach Cybersex, von dem niemand so genau wusste, was das eigentlich sein sollte. Nun gut, damals galt es ja auch noch als ausgemacht, dass die SPD für alle Zeiten eine Volkspartei bleiben würde.

Unangezogene Menschen, die nicht bloß auf Plakaten zu sehen sind, sind weitgehend aus dem realen öffentlichen Raum verschwunden.

Fernsehmagazine und Boulevardzeitungen waren jedenfalls voll mit begeisterten Beiträgen über ein Dings namens »Second Life«, bei dem es ebenfalls um nackige Leute ging. Schon vor der Invasion der Bild-Leser konnte man im Internet, so man sich als Frau zu erkennen gab, interessante Studien über internationale Penisinhaber anstellen. Im netteren Fall wurde man beispielsweise in einem vollkommen bescheuerten Raumfahrt-Game von einem 14jährigen überfallen, der dazu auch noch unverschämte Messages schickte, bis er voller Begeisterung feststellte: »Du zockst so bescheuert, du bist ja wirklich eine Frau«, und in der nächsten Nachricht mitteilte, wo sich die derzeit unbewachten riesigen Rohstoffvorräte seines besten Kumpels befanden, was aber eine andere Geschichte ist.

Zurück zum Thema Nacktheit. Beziehungsweise zu Penissen. Und dem ­irritierenden Internet-Hobby einiger Männer, sich untenrum unangezo­­gen zu knipsen und das Foto dann an nichtsahnende Frauen zu schicken. Nun ist die Sache mit den Penissen aller möglicher Personen halt die: Sie sind, was sie nun einmal sind, und kennt man einen, kennt man sie zwar nicht alle, aber wie bei den meisten Dingen, bei denen die Form der Funktion folgt, mangelt es an einem gewissen optischen Abwechslungsreichtum. Wobei, man könnte sicher interessante Sachen mit ihnen machen, indem man sie hübsch bemalt und ihnen lustige Kostüme anzieht und dann fotografiert, aber der Penisbildverschicker an sich möchte mitsamt seinem anhängenden Anliegen ernst genommen werden. Fremder Leute Geschlechtsteile zu sehen, ist einerseits zwar lästig, aber da man anschließend nicht vor lauter Begeisterung nachts wachliegen wird oder vor Abscheu nie wieder in etwas Wurstförmiges beißen kann, andererseits auch in puncto Auswirkungen auf das eigene Leben völlig folgenlos.

Und so könnte alles im Internet seinen Gang gehen, wenn da nicht die Facebook-Regeln wären. Beziehungsweise ein gewisses Ungleichgewicht bei ihrer Durchsetzung. Selbst die Venus von Milo und Michelangelos David gelten vorrangig als nackig, also werden sie von den Plattformen gelöscht, während Hetzkarikaturen in aller Regel angezogene Menschen zeigen und deswegen verbreitet werden dürfen. Warum diejenigen, die es nicht ertragen können, ­Abbildungen nackter Geschlechtsteile zu sehen, von Facebook ernster genommen werden als diejenigen, die keine antisemitischen oder rassistischen Hasspostings anschauen möchten, man ahnt es nicht. Wobei, doch, man ahnt es schon, denn Nippel, Vulvas und Penisse sind von Algorithmen natürlich leichter zu erkennen als Kari­katuren plus Bemerkungen in verschiedenen Sprachen.

Diejenigen, die vor 20 Jahren dann auch endlich in Boris Beckers Sinn »drin« waren, dürften auf der Suche nach nackigen Leuten jedenfalls nicht enttäuscht worden sein, außer vielleicht, sie hatten dazu auch noch auf Cybersex gehofft, von dem immer noch niemand weiß, was das eigentlich sein soll, obwohl damals, als man noch Fernsehen guckte und Zeitungen aus Papier las, immer mal wieder von hoffnungsvollen Erfindern äußerst eigenartig aussehende Apparaturen vorgestellt wurden, mit denen der möglich sein würde. Was vermutlich ein herber Rückschlag für die Penisbildchen-Verschicker gewesen wäre, vielleicht aber auch eine Erweiterung des Genres hin zum »Soll ich dir mal mein Cyber-Pimmelchen zeigen« möglich gemacht hätte, man weiß es halt nicht. Viel interessanter ist dagegen, dass unangezogene reale Menschen, also solche, die nicht bloß auf Plakaten zu ­sehen sind, weitgehend aus dem realen öffentlichen Raum verschwunden sind.

Noch vor 15 Jahren lag jeder und jede im Sommer so in den Berliner Parks oder im Kreuzberger Prinzenbad herum, wie er oder sie gerade wollte. Und niemand machte ein Drama draus, ungefragt fremder, auf Wiesen herumliegender Leute primäre oder sekundäre Geschlechtsteile zu Gesicht zu bekommen, was aber auch daran gelegen haben könnte, dass sie nicht in der Hoffnung auf einen Schockeffekt präsentiert wurden, sondern einfach bloß da waren, und außerdem regte man sich damals nur auf, wenn es wirklich nötig war. Was natürlich ein bisschen gelogen ist.

Womit wir zur SPD kommen, die vor genau 20 Jahren einen unerhörten und nur mäßig bekleideten Skandal durchmachte, weil ihr ehemaliger Vorsitzender und damaliger Verteidigungsminister Rudolf Scharping sich beim neckischen Baden in einem Pool mit seiner neuen Freundin hatte ­fotografieren lassen, obwohl er damals noch verheiratet war. Na, wer weiß, vielleicht holt ihn die SPD ja noch zurück.