Ästhetik nach Adorno II

Politik als Falle

Die Politisierung der Kunst überdeckt, dass sich die Produktionsbedingungen für Künstlerinnen und Künstlern verschlechtern.

Theodor W. Adorno zufolge zerrt die Kunst an ihrem Begriff wie an einer Kette. Heute scheint es, dass diese Kette brüchig geworden ist. Zu sehr und in zu viele Richtungen wurde an ihr gezerrt, mit dem Resultat, dass nun fast alles unter den Begriff der Kunst zu fallen scheint. Die professionellen Künstler und Kritiker scheinen ganz gut mit einem Feld leben zu können, in dem man so gut wie alle affektiven, kulturellen, theoretischen und politischen Bedürfnisse unterbringen kann. Auch für das Publikum, das sich nicht nur nach Unterhaltung und gehobenem Kulturtourismus, sondern auch nach Orientierung und Belehrung sehnt, scheint das kein schlechter Zustand zu sein. Doch die leicht gequälten Kommentare, die man jüngst in den Feuilletons zur Biennale in Venedig lesen konnte, zeigen ein Unbehagen: Erfüllt das, was da gezeigt wird, noch jene Bedürfnisse, die einst mit dem großen Namen der Kunst assoziiert wurden?

Es ist auffällig, wie friedlich in der heutigen Kultur scheinbar progressive Arbeitsinhalte mit elenden Arbeits- und Lebensweisen koexistieren.

Selbst wenn dies eine irrelevante, sentimentalen philosophischen Reflexen geschuldete Frage wäre, bleibt immer noch die weitergehende Frage nach dem Grund des aktuellen Unbehagens übrig. In diesem Zusammenhang aufschlussreich war ein Interview, das Catrin Lorch kürzlich für die Süddeutsche Zeitung mit dem Direktor der Münchner Sammlung Brandhorst anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Museums führte. Es gäbe, so Achim Hochdörfer, keine Namen mehr für die Stile und Tendenzen der Kunst der heutigen Zeit. Der Paradigmenstreit um die jeweils avancierteste Kunstform sei implodiert. »Während schon Anfang der achtziger Jahre die Wiederkehr der Ma­lerei ausgerufen wurde und zu Beginn der neunziger Jahre die Institutionskritik, sind solche Bestandsaufnahmen seit der Jahrtausendwende implodiert. Es gibt keine Ismen mehr.« Die Gegenfrage der Journalistin: »Vielleicht auch, weil Kunst stellvertretend für andere Bereiche erst einmal politische Forderungen erfüllt? Weil sie Frauen kanonisiert, Kontingente erschließt und Randgruppen integriert?« Der Museumsdirektor erwidert nur lapidar: »Völlig richtig.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der der Kunst mittlerweile eine allgemeine Orientierungsfunktion für die Ausbildung des Selbstverständnisses einer Gesellschaft einnimmt, ist bemerkenswert. Zog die Politisierung der Kunst in den Neunzigern noch erbitterte Kritik auf sich, haben sich heute anscheinend alle irgendwie damit abgefunden. Neuere Angriffe von rechts gegen die bürgerlichen Freiheiten machen eine großzügige Auslegung von philosophischem Kunstbegriff und juristischer Kunstfreiheit plausibel. Selbst die spätadoleszenten Provokateure vom Zentrum für Politische Schönheit genießen dann noch eine gewisse, wenn auch zähneknirschende Duldung durch den gehobenen kulturbürgerlichen Mainstream.

#Die Frage ist seit den späten Neunzigern dieselbe geblieben: Wie kam es zur umfassenden Politisierung der Kunst, und welche Funktion erfüllt sie? Meine These ist, dass diese Politisierung eine Falle war: eine umfassende Vereinnahmung widerständiger kultureller Formen durch das künstlerische, journalistische und akademische Feld zugleich. Irgendwann kam es zu einer Institutiona­lisierung institutioneller Kritik. Was vorher noch eine Provokation des bürgerlichen Mainstreams war, wurde zu einer erwartbaren und routiniert dargebotenen neuen Kunstform. So entstand ein kritisch verkleideter sozialer Utilitarismus: Politisierung als scheinbar progressives Ornament einer Gesellschaft, die sich ansonsten eher entpolitisiert. Avancierte Kunst- und Theoriepraktiken sehen sich immer mehr gezwungen, sich zu rechtfertigen, in den Worten Adornos gesagt, ihre »Ticket-Mentalität« zu genießen und zu erweisen.

Der emphatische Begriff der Kunst, nämlich radikale Autonomie jeder Form von Rechtfertigung enthoben zu sein, und sei es einer kritischen, wurde so gleichsam unterwandert. Es kam zu einer unübersehbaren Professionalisierung der kulturellen Berufe. Die neue Form der verwalteten Kultur legitimiert sich mit einer irgendwie kritischen Funktion der Künste. Das Dispositiv der Rechtfertigung passt perfekt zu den neuen bürokratischen Formaten der Kulturförderung. Vielen Ausstellungen und Werken sieht man ihre Herkunft aus den zeitgenössischen Antragsformaten an. Über eine letztlich immer auch als kulturkonservativ lesbare Verfallskritik à la Adorno hinaus stellt sich hier die Frage nach den politischen Gehalten solcher neuen Arbeitsweisen. Es ist auffällig, wie friedlich in der heutigen Kultur scheinbar progressive Arbeitsinhalte mit elenden Arbeits- und Lebensweisen koexistieren. Wer die Autonomie der Kunst den herrschenden Rechtfertigungszwängen unterwirft, der landet in einem neuen Biedermeier kritischer Erbaulichkeit. Die latente Prekarisierung kultureller Arbeitsbedingungen ist also vielleicht das, was die manifesten Politisierungstendenzen in der Kunst verschleiern. Dagegen sollte angegangen und wieder die Frage nach dem Begriff emanzipatorischer künstlerischer, aber auch theoretischer Arbeit gestellt werden.

Unter dem Titel »Ästhetik nach Adorno. Autonomie, Kritik, Versöhnung« findet vom 21. bis zum 23. Juni in Berlin ein Symposium statt, auf dem mit Rückgriff auf die ästhetische Theorie Theodor W. Adornos das derzeitige Verhältnis zwischen Politik, Gesellschaft und Kunst
kritisch diskutiert werden soll. In der »Jungle World« geben drei der Teilnehmer, die Philosophen Anne Eusterschulte, Michael Hirsch und Christian Grüny, einen kurzen Einblick in das Thema ihres jeweiligen Vortrags, insbesondere in Hinblick auf politische Kunst.