DDR-Zeitschrift »Sibylle«

Die damalige Frau von heute

»Sibylle« war die bekannteste Modezeitschrift der DDR. Sie prägte ein selbstbewusstes Frauenbild, das nicht immer der offiziellen Staatsdoktrin entsprach.

Berlin-West, Mitte der achtziger Jahre: eine bunte Insel und drumherum ganz viel graue Mauer. Ich machte meine Ausbildung bei einem Werbe- und Industriefotografen. Frauen waren ganz klar unterrepräsentiert in diesem Beruf und mehr vor als hinter der Kamera zu finden. Die Prüfungsthemen waren langweilig und uninspirierend. Um wie viel freier wirkten auf mich die Fotografen und ihre ­Fotos, die Models und die Mode in der Sibylle. Neidvoll schaute ich in den Ostteil Berlins, wo unter diesem klangvollen Namen ein Modeheft erschien, das so viel mehr abbildete als nur klassische Mode und coole Models.

Das Besondere war die Verbindung von großartigen Modeaufnahmen vor einer Kulisse, die an Tristesse nicht zu überbieten war.

Sibylle – schon allein der Name ließ jedes Fotografinnenherz höher schlagen. Und das nicht nur in dem Teil Deutschlands, in dem das zum Kultobjekt avancierte Magazin verlegt und produziert wurde, sondern auch im Westen. Das Besondere war die Verbindung von ganz und gar großartigen Modeaufnahmen in Schwarzweiß und Farbe vor einer Kulisse, die an Tristesse nicht zu überbieten war. Film Noir auf grobem Papier, inszeniert mit sehr viel Symbolcharakter.

Mein Herz jedenfalls hatte die ­Sibylle im Sturm erobert. Ab und an pilgerte ich mit einem Tagesvisum in den Ostteil der Stadt, um Orwo-­Papier und -Filme zu kaufen, Produkte einer längst vergangenen Ära, für mich als Fotostudentin erschwinglich und im Rückblick unverfälscht, einzigartig. Dieses Korn! Ergattern konnte ich hier und da auch eine der begehrten Ausgaben der Sibylle, von denen ich leider heutzutage keine einzige mehr besitze.

Dass die Zeitung von einer jüdisch-deutschen Fotografin ins Leben gerufen wurde, von der 1920 in Breslau geborenen Kostümbildnerin und Modejournalistin Sibylle Boden-Gerstner, war nochmal besonders interessant für mich als Berliner Jüdin, auch wenn das natürlich damals weder im Westen noch im Osten ein Thema war.

Für die, die es nicht wissen oder wissen können (weil sie nicht dabei waren in dieser legendenumwobenen Zeit): Die Sibylle war die »Zeitschrift für Mode und Kultur« der DDR. Sie erschien von 1956 bis 1995 sechsmal jährlich in einer Auflage von 200 000 Exemplaren im »Verlag für die Frau« in Leipzig und war so heiß begehrt, dass sie regelmäßig schnell vergriffen und nur noch unter der Ladentheke zu bekommen war, was im DDR-Jargon charmant »Bückware« hieß.

Die Modeaufnahmen bedienten die Sehnsucht nach der großen weiten Welt hinter der Mauer.

Aber die Zeitschrift musste sich auch Kritik gefallen lassen. Viele Frauen störten sich daran, dass sie Kleidung zeigte, die in den Läden der DDR gar nicht erhältlich war. Die ­Redaktion arbeitete daher im ständigen Spagat: Entweder sie präsentierte Erzeugnisse der heimischen Textilbetriebe (die dann ins befreundete sozialistische Ausland exportiert wurden) oder bot Schnittmuster für die patente Selbermacherin an – was auch zu Kritik führte: Die wenigen erhältlichen DDR-Produkte sollten doch schließlich auch verkauft werden. In jedem Fall weckten die Inszenierungen und Modeaufnahmen von Modellen in Spitze, Leder, Tweed, Strick, Spiegelseide oder Pelz Begehrlichkeiten, bedienten aber zugleich die Sehnsucht nach der großen weiten Welt hinter der Mauer.

Dass Mode und Modefotografie nicht nur elegant und praktisch, sondern – zumindest implizit – auch ­politisch sein konnte, bewies Sibylle mit jeder neuen Ausgabe: Neben der abgebildeten Kleidung gab es im Heft essayistische Serien, Reportagen, Landschafts- und Architekturaufnahmen und vor allem Porträts ganz »normaler« Menschen in ihrem Arbeitsumfeld oder von Schauspielerinnen wie Katharina Thalbach oder Angelica Domröse. Angetan hatte es mir vor allem die Serie »Frauen von heute«, die die Arbeiterin am Fließband ebenso zeigte wie die Innenarchitektin für Frachtschiffe am Zeichenbrett. Als Kulissen dienten die rauschenden Schornsteine der Fabriken in der Industriestadt Bitterfeld ebenso wie das urbane Leben in der Friedrichstraße.

All das war dann 1995 vorbei. Nach der Wende behauptete sich die ­Zeitschrift noch einige Jahre, um dann doch für immer eingestellt zu werden.


»Sibylle« zählte mit einer Auflage von 200 000 Exemplaren zu den wichtigsten Zeitschriften in der DDR. Das Willy-Brandt-Haus in Berlin widmet dem Modemagazin eine Ausstellung. Im Mittelpunkt ­stehen die Arbeiten der Fotografen und Fotografinnen Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute Mahler, Werner Mahler, Sven Marquardt, Elisabeth Meinke, Roger Melis, Hans Praefke, Günter Rössler, Rudolf Schäfer, Wolfgang Wandelt, Michael Weidt und Ulrich Wüst, die den Stil des Magazins entscheidend ­prägten. »Sibylle.«, Willy-Brandt-Haus. Berlin. Bis 25. August 2019