Psychische Krankheit im Kapitalismus

Optimiere dich selbst

Achtsamkeit, Spiritualität, positive Psychologie: Glücklichsein ist im Kapitalismus zum Zwang geworden. Gestresste und depressive Subjekte sind einfach zu unproduktiv.

In seinem Bestseller »The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations« von 1979 beschrieb der amerikanische Kritiker und Historiker Christopher Lasch ein gesellschaftliches Klima, das ihm zufolge von einer »therapeutischen Sensibilität« gekennzeichnet war, die überkommene, vor allem religiöse Heilsvorstellungen durch eine Besessenheit mit psychischer Gesundheit ersetzt hatte, und zwar unter Bedingungen, die diese immer stärker gefährdeten. Für Lasch stellte die neue Aufmerksamkeit, die der »happiness« vor allem in der Gegenkultur zukam, trotz des emanzipa­torischen Sounds dieses Diskurses eine sich abzeichnende repressive Moral eines neuen, permissiven Kapitalismus dar, die Slavoj Žižek einmal mit der scheinbar paradoxen Formel einer »Verordnung zu genießen« auf den Begriff gebracht hat. Der Befreiung, die hier im Munde geführt wurde, seien hinter ihrem Rücken längst die alten Gegner abhanden gekommen, so Lasch.

 »Seien Sie zuversichtlicher und vertrauen Sie auf Ihre Fähigkeiten. Auch Lachen kann helfen.«

40 Jahre später gibt es eine Fülle an Neuerscheinungen, die sich kritisch mit den Versprechen der Psycho­hygieniker auseinandersetzt. Zu nennen wären etwa Carl Cederströms vielbeachtete kritische Studie »Die Phantasie vom Glück«, Ronald E. Pursers jüngst erschienene Kritik der »neuen kapitalistischen Spiritualität«, die die Achtsamkeitsbewegung zum Thema hat (»McMindfulness«), und auch die im vergangenen Jahr bei Knaur in deutscher Sprache erschienene Kritik am »Selbstoptimierungswahn« des Psychologen Svend Brinkmann (»Pfeif drauf!«).

Diese Reihe von Veröffentlichungen wird ergänzt durch eine Kritik der Industrie und Wissenschaft des Glücks, die die bekannte israelische Soziologin Eva Illouz in Zusammenarbeit mit dem Psychologen Edgar Cabanas unter dem Titel »Das Glücksdiktat« vorlegt hat. Beschrieb Lasch noch die Konturen einer emergenten Erscheinung, so müssen Illouz und Cabanas bereits einiges an Mühe aufwenden, die Gewissheiten, auf denen der Gegenstand ihrer Kritik beruht, zu verfremden, kommen die Grundannahmen der positiven Psychologie, von deren Siegeszug das Buch erzählt, doch allzu selbstverständlich daher. Deren Credo besagt, dass Glück ein wissenschaftlich mess- und beschreibbarer Zustand sei, ein auf das Selbst zentriertes und vom Selbst abhängiges Bestreben, ein lebenslanges Projekt und das vornehmste Ziel im Leben, kurz: der Maßstab für ein gelungenes Leben schlechthin. Das große Interesse des Staats, der Wirtschaft, des Erziehungswesens und auch des Militärs an dem Paradigma, das die Autoren dokumentieren, gibt keine großen Rätsel auf: Unglückliche, gestresste Subjekte sind nicht sonderlich produktiv und stellen einen erheblichen Kostenfaktor dar. Laut der WHO gelten weltweit 350 Millionen Menschen als depressiv, und bis 2020 dürften Depressionen die Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit darstellen.

 

Das erste Kapitel von »Happy­cratie«, so der Titel der französischen Originalausgabe, behandelt die Entwicklung der positiven Psychologie von einem Sammelsurium an Lebensratgeberweisheiten (mit denen sich Illouz schon ausgiebig in ihrem Buch »Die Errettung der modernen Seele« beschäftigt hatte) und Kalendersprüchen zu einer Normalwissenschaft, mitsamt der entsprechenden institutionellen Ausstattung wie Master- und Doktorandenprogrammen, Zeitschriften, Symposien und Stipendien. Bemerkenswert ist ein einschlägiges Handbuch, das »Manual of the Sanities«, denn sein Titel ist programmatisch: Der positiven Psychologie geht es nämlich unter anderem um eine Abkehr vom »Pathologiemodell« der »traditionellen Psychologie«. Statt psychischer Störung möchte das Handbuch Stärken und Tugenden klassifizieren, um Menschen dabei zu »helfen, ihr höchstes Potential zu verwirklichen«. Die anti­normative Verve ist durchaus beachtlich: so wird einer der Begründer der positiven Psychologie mit der Aussage zitiert, dass jedwede Verwirklichung eines persönlichen Potentials als »Glück« bezeichnet werden könne, auch wenn es sich dabei um die Tat eines sadistischen Mörders oder eines al-Quaida-Terroristen handele. Die weitgehende Durchsetzung des Paradigmas, von der Cabanas und Illouz ausgehen, bedeutet allerdings auch, dass damit eine neue Norm gesetzt wird, deren Morphologie das letzte Kapitel gilt.

Weite Passagen des Buchs lesen sich dementsprechend wie eine Illustration von Adornos Aphorismus »Die Gesundheit zum Tode« aus den »Minima Moralia«, in dem davon die Rede ist, dass die »inwendige Gesundheit der Epoche« darin bestehe, dass sie »die Flucht in die Krankheit abgeschnitten hat, ohne doch an deren Ätiologie das mindeste zu ändern«. Es wird geradezu als ein thatcheristisches Dogma herausgearbeitet, dass es im Bereich der psychischen Gesundheit so etwas wie Gesellschaft nicht gebe, obgleich es nicht an Untersuchungen mangele, die auf einen starken Zusammenhang zwischen zum Beispiel Arbeitslosigkeit und psychischen Problemen hinwiesen. Allein in Griechenland war dem Gesundheitsökonomen David Stuckler zufolge im Zuge der Austeritätspolitik nach der Wirtschaftskrise 2008 ein Anstieg der Selbstmordrate um 60 Prozent zu verzeichnen. Mit Händen greifbar wird dieses Dogma mit der Wissenschaftlichkeit suggerierenden Happiness-Formel, gemäß der Glück sich zusammensetzt aus genetischer Prädisposition, willentlicher und intentionaler Aktivität zur Glückssteigerung sowie glücksrelevanten sonstigen »Umständen« aller Art, wobei 50 Prozent für Genetik und 40 Prozent für Aktivität veranschlagt werden, während die »Umstände«, also Petitessen wie sozialer Status, Einkommen oder Bildungsgrad, unter ferner liefen abgelegt werden. Jeder ist also zu 90 Prozent seines eigenes Glückes Schmied, so die dürre wie affirmative Auskunft der positiven Psychologie.

Illouz und Cabanas schreiben nicht sine ira et studio; der Ton entbehrt stellenweise nicht einer gewissen Drastik, es ist von der »Kontrolle über unsere Leben« und von »Tyrannei« die Rede. Allein, wer Zweifel an der Durchsetzung der Prinzipien der positiven Psychologie hat, dem sei ein oberflächlicher Blick auf die Rhetorik offizieller staatlicher Empfehlungen angeraten: »Seien Sie zuversichtlicher und vertrauen Sie auf Ihre Fähigkeiten. Es hilft auch, über Sorgen zu sprechen. Und auch mal über sich selbst zu lachen: Auch Lachen kann helfen, Stress abzubauen und dadurch vielleicht sogar das Immunsystem zu stärken. Humor hilft, belastende Situationen zu entschärfen.« Das sichere Eintreffen der belastenden Situationen, so darf man dem »Ratgeber zur Prävention und Gesundheitsförderung« des Bundesgesundheitsministeriums unterstellen, wird stillschweigend bereits einkalkuliert. Die Broschüre »Leben in Balance« aus derselben Quelle legt dementsprechend großen Wert auf eine Schlüsselkategorie der positiven Psychologie, namentlich die »Resilienz«: »Hier geht es um die persön­liche Bewertung von Belastung und darum, zu erkennen, unter welchen Umständen Menschen gestärkt aus Krisen hervorgehen«. Nach der Lektüre von »Das Glücksdiktat« wird man sich schwer damit tun, die militärischen und darwinistischen Implikationen dieses Konzepts zu vergessen und die Drohung zu über­sehen, die hier freundlich lächelnd vorgetragen wird.

Edgar Cabanas, Eva Illouz: Das Glücksdiktat – Und wie es unser Leben beherrscht. Aus dem Französischen von Michael Adrian. Suhrkamp, Berlin 2019, 242 Seiten, 15 Euro