Der Begriff des Extremismus ist eine ideologische Waffe

Hakenkreuz und Hufeisen

Die Rede von den extremistischen Rändern, die die Demokratie bedrohen, gefährdet die Demokratie - und nutzt den Faschisten.

Wiederholt sich die Geschichte? Kommt es in Deutschland zu einer erneuten Machtergreifung des Faschismus? Nein! Es ist viel schlimmer. Nicht der Faschismus, der »Extremismus« wird an die Macht kommen – jedenfalls in Thüringen. Dort erhielten bei der Landtagswahl am 27. Oktober zwei »extremistische« Parteien zusammen mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Gemeint sind die »linksextremistische« Linkspartei einerseits, die »rechtsextremistische« AfD andererseits. ­Zusammen könnten die beiden in Thü­ringen eine stabile Regierung bilden. Dies käme einer Machtergreifung des Extremismus gleich.

Einige offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Verfassungsschutzes kamen auf die Idee, den Begriff »radikal« durch »extremistisch« zu ersetzen.

Doch keine Panik! Dazu wird es schon deshalb nicht kommen, weil es den ­Extremismus gar nicht gibt. Beim Extremismus handelt sich nicht um ein real existierendes politisches Phänomen, sondern um ein politologisches Konstrukt der sogenannten Extremismustheorie. Bei dieser handelt es sich aber nicht um eine empirisch stichhaltige Theorie, mit der man die Geschichte erklären kann, sondern um eine Ideologie, mit der man Geschichte machen will. Die Extremismusideologie ist historisch nicht wahr, aber wirkungsvoll. Sie nützt dem Faschismus und schadet der Demokratie.

Um diese These zu begründen, muss man etwas weiter in die Geschichte der politischen Theorien zurückblicken. Zu beginnen ist mit der Totalitarismustheorie. Erfunden haben diese Vorgängerin der Extremismusideologie einige italienische Antifaschisten, die in den zwanziger Jahren Mussolini vorwarfen, einen stato totalitario errichten zu wollen. Der faschistische totalitäre Staat weise große Ähnlichkeit mit dem bolschewistischen auf. Daher könne der Faschismus als »Rechtsbolschewismus« und der Bolschewismus als »Linksfaschismus« bezeichnet werden. Selbstverständlich ist das alles nicht wahr. Bolschewismus und Faschismus sind grundverschieden. Es handelte sich nicht um eine historisch belegbare Theorie, sondern um eine historisch wirkungsvolle Ideologie.

 

Diese Ideologie fanden verschiedene Sozialdemokraten ausgesprochen gut. Das kann man verstehen, waren sie es doch leid, von den Kommunisten ständig als »Sozialfaschistischen« beschimpft zu werden. Doch das recht­fertigt nicht ihre Gleichsetzung von »Kozis« und »Nazis«, die »gleiche ­Brüder mit ungleichen Kappen« seien. Erfolgreich war die sozialdemokratische Totalitarismusideologie nicht. Sie verhinderte die Bildung einer anti­faschistischen Einheitsfront aus Kommunisten und Sozialdemokraten und hinderte die bürgerlichen Parteien nicht daran, ein Bündnis mit der NSDAP einzugehen. Dies nützte dem Faschismus und schadete der Demokratie. Die Weimarer Demokratie ist nicht von den politischen Rändern, sondern von oben und aus der Mitte der Gesellschaft zerschlagen worden.

Damit war die Totalitarismusideologie durch die Geschichte eigentlich schon grausam widerlegt. Doch nach der Befreiung Europas vom Faschismus übernahmen sie einige vornehmlich US-amerikanische Politologen und verbreiteten sie fleißig. Das ideologischen Konstrukt vom Totalitarismus diente dem Westen in der Zeit des Kalten Krieges der politischen und propagandistischen Bekämpfung der Sowjetunion und ihrer Satelliten. Erfolgreich war dieser Kampf nicht. Die europäischen kommunistischen Staaten wurden nicht von außen zerschlagen, sondern von innen durch revolutionäre Erhebungen zur Aufgabe gezwungen. Daher hätte man nach dem Untergang des Ostblocks gut und gern auf die ­gewissermaßen nutzlos gewordene Totalitarismusideologie verzichten können.

Dazu konnte sich die Bundesrepublik aber nicht bereit finden. Sie kann und will nicht auf die Totalitarismusideologie verzichten. Schließlich war und ist sie so etwas wie die Staatsdoktrin der Bundesrepublik Deutschland. Mit ihr rechtfertigte man die Ausgrenzung und Verfolgung von tatsächlichen oder nur angeblichen Verfassungsfeinden. Diese bezeichneten man bis weit in die acht­ziger Jahre hinein als »Radikale«. Das war negativ gemeint. Und als »radikal« identifiziert zu werden, konnte vor allem in den siebziger und achtziger Jahren ein Berufsverbot im öffentlichen Dienst nach sich ziehen. Doch dann merkten einige des Lateinischen kundige Staatsschützer, dass »radikal« sich vom lateinischen Wort für Wurzel, radix, ableite und eigentlich »an die Wurzeln gehend« bedeutet. Das kann man nun wirklich nicht als verwerflich und verfassungsfeindlich bezeichnen.

 

Daher kamen einige offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Verfassungsschutzes auf die Idee, den Begriff ­»radikal« durch »extremistisch« zu ersetzen. Der Duden versteht »extremistisch« als eine »extreme Einstellung«. »Extrem« ist oder soll das »Äußerste« und von der Mitte Abweichende sein. Und das gilt als irgendwie schlecht. Das verstehe, wer will. Eine schlüssige Begründung existiert nicht und ist auch nicht ersichtlich: Man würde schließlich auch keinen Bergsteigern verübeln, dass sie eine Extremsportart betreiben, oder eine mittelmäßige Examensarbeit als »gut« bewerten.

Vollends problematisch wird es, wenn man die unzureichend definierten und negativ konnotierten Begriffe »extrem« und »extremistisch« zur abwertenden Bezeichnung von linken und rechten politischen Parteien verwendet, die kaum etwas gemeinsam haben und oft gegen ihren Willen auf die linken und rechten Ränder verwiesen sind. Diese Einordnung orientiert sich an der Sitzordnung in den meistern europäischen Parlamenten. Hier sind die Abgeordneten der linken und rechten Parteien auf den linken und rechten Rändern des halbkreisförmigen Parlamentssaals platziert.
Doch dies war und ist in keineswegs allen europäischen Parlamenten der Fall. Die linken und radikalen Mitglieder des nach der Französischen Revolution von 1789 gebildeten Nationalkonvents benutzten die obersten und höchsten Sitzreihen des Parlaments. Daher wurden sie zu »La Montagne« (Bergpartei) gezählt. Die gemäßigteren sogenannten Girondisten wurden dagegen nach ­ihrer Sitzposition in den niedrigsten Rängen als »Marais« (Sumpf) bezeichnet, beziehungsweise beschimpft. Die parlamentarische Sitzordnung, wonach die Linken links, die Rechten dagegen rechts sitzen, wurde in Frankreich erst nach der Julirevolution von 1830 ein­geführt und dann von den meisten anderen europäischen Parlamenten übernommen.

Das britische Parlament folgte dem kontinentaleuropäischen Beispiel nicht. In ihm sitzen sich die Abgeordneten der Opposition und der Regierung gegenüber. Heutzutage sind das die konservativen Tories und die Abgeordneten der Labour-Partei. Das muss sowohl den rechten Tories wie den linken Labour-Abgeordneten gefallen. Sie können nicht als Links- und Rechtsextremisten bezeichnet und beschimpft werden, weil sie nicht auf den linken und rechten Rändern des Parlamentssaals platziert wurden.

 

Ihre kontinentaleuropäischen Kollegen haben es nicht so gut. Sie werden nicht nur als Links- und Rechtsradikale bezeichnet und beschimpft, sondern zu noch schlimmeren »Extremisten« gemacht. Dies geschieht mit Hilfe ­einer politologischen Theorie, die ihr Schöpfer und Erfinder, der Chemnitzer Politologe Eckhard Jesse, allen Ernstes als »Hufeisentheorie« bezeichnet hat. Diese »Theorie« hat er mit dem Zeichenstift entworfen. Er hat die linken und rechten Ränder des politischen Halbkreismodells zu einem Hufeisen erweitert. Damit will er suggerieren, dass die beiden extremistischen Parteien sich einander angenähert und ein einziges politisches Phänomen gebildet hätten – den Extremismus. Noch einmal: Das ist kein Witz. Der Extremismusforscher Jesse meint das ernst.

Die mit Halbkreisen und Hufeisen begründete Extremismusideologie ist auch nicht witzig. Sie ist falsch und ­gefährlich, weil sie dem Faschismus nützt und der Demokratie schadet. Auf der Suche nach Extremisten haben Polizei und Verfassungsschutz die ­faschistischen Aktivitäten ganzer Netzwerke von Attentätern, Mördern und deren Sympathisanten viel zu lange übersehen oder bewusst geduldet. Aufrechte Antifaschistinnen und Antifaschisten mussten sich bei ihrem Kampf gegen die extreme Rechte den Vorwurf gefallen lassen, selbst Linksextremisten ergo genauso schlimm wie Neonazis zu sein. Die AfD wurde von nicht wenigen staatstragenden deutschen Politologen noch nicht einmal als rechtsextremistisch eingeschätzt, sondern als »rechtspopulistisch« oder »rechtskonservativ« verniedlicht.

Bekämpfen muss man aber heutzutage wieder den Faschismus, nicht die Chimäre Extremismus, wobei die dazugehörige Theorie ohnehin auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Die Gegenwart hat sie erneut widerlegt. Wenn, wie das gerade in Thüringen geschehen ist, extremistische Parteien zusammen über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen, befinden sie sich beim besten oder schlechtesten Willen nicht mehr an den Rändern des politischen Feldes. Sie sind in der Mitte angekommen. Das können die übrigen Parteien nicht leugnen. Sie müssen Koalitionsverhandlungen mit einer der »extremistischen« Parteien aufnehmen. Nach dem Willen der CDU-Führung darf das nicht die Linkspartei sein. Daher haben einige Mitglieder der thüringischen CDU vorgeschlagen, mit dem Faschisten Björn Höcke über ein mögliches Bündnis zu reden. Sollte das erfolgreich sein, sollten also deutsche Konservative wieder einmal bereit sein, mit Faschisten ein Bündnis abzuschließen, kann sich die Geschichte wirklich wiederholen. Vielleicht nicht als Tragödie, sondern »nur« als Farce. Doch abzuwarten, was denn nun wird, empfiehlt sich nicht.