05.03.2020
Ausschreitungen gegen die muslimische Minderheit in Neu-Delhi

Sieg dem Gott Rama

In Indiens Hauptstadt Neu-Delhi wütete vorige Woche ein Hindu-Mob. Muslime wurden attackiert, Wohnhäuser und Geschäfte zerstört, Moscheen und Schulen in Brand gesteckt. Die Polizei schaute weg.

In Neu-Delhi eskalierte vorige Woche die Gewalt. Die Übergriffe begannen am Montag voriger Woche, dauerten über 72 Stunden und forderten mindestens 42 Todesopfer. Mehr als 200 Menschen wurden verletzt. Gruppen junger Hindunationalisten, bewaffnet mit Holz- und Eisenstangen, Schusswaffen und Molotowcocktails, zogen durch muslimische Stadtviertel im Nordosten Delhis und attackierten Menschen, die sie für Muslime hielten. Geschäfte und Wohnhäuser wurden verwüstet, Fahrzeuge verbrannt. Im Stadtteil Mustafabad legte ein Mob von etwa 50 Männern Brandsätze in einer Schule und zerstörte die Einrichtung. Vier Moscheen wurden angegriffen. In den sozialen Medien kursierende Videos zeigen Männer, die auf ein Minarett klettern, die Lautsprecher zerstören und eine Fahne des Hindu-Gottes Hanuman platzieren.

Die Unruhen in Delhi offenbaren die Absicht hinter dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz: die Gesellschaft auf der Grundlage religiöser Zugehörigkeit zu polarisieren.

Während in Delhi Hindunationalisten muslimische Inder wegen ihres Glaubens jagten und töteten, überschüttete US-Präsident Donald Trump den indischen Premierminister Narendra Modi von der hindunationalistischen Partei BJP mit Lob für die harmonische Vielfalt der sogenannten größten Demokratie der Welt. Trump war auf zweitägigem Staatsbesuch in Indien, um Handelsabkommen und Rüstungsverträge abzuschließen. Modi schien die Gewaltausbrüche zunächst zu ignorieren, bis er sich am dritten Tag per Twitter an die Einwohner Indiens richtete: »Frieden und Harmonie stehen im Mittelpunkt unseres Ethos. Ich appelliere an meine Schwestern und Brüder in Delhi, jederzeit Frieden und Brüderlichkeit zu wahren.«

Die politische Lage in Indien ist bereits seit Wochen äußerst angespannt. Grund sind das am 12. Dezember 2019 verabschiedete neue Staatsbürgerschaftsgesetz, der Citizenship Amendment Act (CAA), sowie dessen Vorläufer, National Register of Citizen (NRC) und National Population Register (NPR). Weil das Gesetz Flüchtlingen aus angrenzenden Staaten wie Pakistan und Bangladesh Schutz gewährt, wenn diese relgiösen Minderheiten angehören, Muslime davon jedoch ausschließt, gilt es als diskriminierend und steht im Widerspruch zu der säkularen Verfassung Indiens. Die Proteste gegen CAA, NRC und NPR haben landesweit Tausende Menschen verschiedener Religionen und politischer Lager auf die Straße gebracht, ein umfassendes Netzwerk der Solidarität wurde organisiert. Am 22. Februar begann eine Gruppe protestierender Frauen in Delhi einen Sitzstreik unter der Jaffrabad Metro Station und blockierte die Straße. Doch am 23. Februar fand in Maujpur, nur wenige Kilometer entfernt von den Blockaden, eine Kundgebung für das CAA und vor allem gegen die Proteste statt. Der BJP-Politiker Kapil Mishra nutzte die aufgeheizte Stimmung und drohte offen mit Selbstjustiz. In seiner Rede forderte er die Polizei von Delhi auf, die Straßen zu räumen, die von Menschen besetzt waren, die gegen das CAA protestierten. Er drohte, seine Anhänger würden die Proteste gewaltsam beenden, falls seine Forderungen nicht erfüllt werden. Im Anschluss an die Demonstration gab es erste Auseinandersetzungen zwischen für den CAA Demonstrierenden und Gegnern des Gesetzes.

Am Montag vorvergangener Woche begann der antimuslimische Gewalt­exzess. Um zehn Uhr vormittags wurde das Anti-CAA-Protestcamp im muslimischen Viertel Chand Bagh attackiert. Protestierende berichteten, dass die Polizei gezielt ihre Zelte angegriffen und Tränengas eingesetzt habe. Ab nachmittags streiften Gruppen maskierter junger Männern durch den mehrheitlich muslimisch bewohnten Nordosten der Hauptstadt Neu-Delhi. Der Tageszeitung Indian Express und Augenzeugenberichten zufolge war offensichtlich, welche Botschaft die Übergriffe vermitteln sollten: Indien den Hindus. Laut und aggressiv schallten Rufe durch die Straßen: »Jai Shri Ram« (Sieg dem Gott Rama), einer der mächtigsten Götter im Hinduismus. Dieser Ruf war in der Vergangenheit immer wieder bei hindunationalistisch motivierter Gewalt zu hören und hatte bereits eine Welle antimuslimischer Gewalt 2002 in Gujarat begleitet. Nach Schätzungen von Menschenrechtlern starben bei den mehrwöchigen Verfolgungen in dem westindischen Bundesstaat etwa 2 000 muslimische Inder. Modi, zu jener Zeit noch Chief Minister des Bundesstaats, wird bis heute vorgeworfen, die Verfolgung geduldet zu haben, denn die Polizei blieb tagelang untätig, bevor sie schließlich eingriff.

Auch bei den jüngsten Ausschreitungen in Delhi wird der Polizei zögerliches Einschreiten bis hin zur Duldung vorgeworfen. Ein leitender Richter in Delhi kritisierte auch, dass die Polizei der Stadt keine Schritte unternommen habe, um die Randalierer oder jene zu verhaften, die durch Hassreden zur Gewalt anstiften. »Wie viele Leben müssen noch verloren gehen? Wie viel Eigentum muss zerstört werden?« fragte der Richter S. Muralidhar Mitte vergangener Woche. Wenige Stunden später veranlasste die Regierung seine Versetzung vom Delhi High Court zum Punjab and Haryana High Court. Die Polizei in Delhi untersteht der Zentralregierung und somit dem Befehl von Innenminister Amit Shah, der als rechte Hand Modis gilt. Shah sprach aus, was Modis Diplomatie verschleierte: Das politische Ziel der BJP ist die Hindutva – die Errichtung einer hinduistischen Nation. Aus seinem Ministerium stammt das umstrittene Gesetz zur Staatsbürgerschaft.

Parteiübergreifend will die Opposition in der Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, eine Untersuchungskommission einrichten, um die Geschehnisse aufzuarbeiten. Der Regierung wird vorgeworfen, die öffentliche Ordnung sowie die Menschen von Delhi nicht ausreichend zu schützen und Gewalttäter absichtlich gewähren zu lassen. Der Fraktionsvorsitzende der Kongresspartei, Adhir Ranjan Chowdhury, wirft der Polizei gar vor, aktiv an den Übergriffen beteiligt gewesen zu sein, und fordert Shahs Rücktritt.