Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben

Sterbehilfe mit Spielraum

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben. Damit ist die Frage der Sterbehilfe jedoch längst nicht eingehend geregelt.

Es war die große Stunde für die Kläger und den Verein Sterbehilfe Deutschland, als das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch voriger Woche das Urteil verkündete. Der Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs, der bisher die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt und gegen den sich die Klage gerichtet hatte, ist seither Geschichte. Er muss ersatzlos gestrichen werden. Ein jeder habe grundsätzlich ein Recht auf »selbstbestimmtes Sterben«, befand das Gericht. »Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und diese in Anspruch zu nehmen«, führte der Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle aus.

»Noch ist diese aktive Tötung nicht erlaubt, aber das Urteil öffnet den Raum in diese Richtung.« Benno Bolze, Deutscher Hospiz- und Palliativverband

In einer anschließenden Sondersendung des ZDF brach Helmut Feldmann in Freudentränen aus. Der 73jährige war einer der Kläger, die gegen den Paragraphen 217 vor Gericht gezogen waren. Im Jahr 2015 hatte der Bundestag nach langen Verhandlungen die geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland gesetzlich verboten. »Geschäftsmäßig« war jedoch nicht gleichbedeutend mit »kommerziell«. Geschäftsmäßigkeit hätte nach Gesetzeslage bereits bestanden, wenn jemand die Sterbehilfe wiederholt angeboten hätte. Der Gesetzgeber wollte damit Vereinen das Handwerk legen, die Sterbehilfe offen angeboten hatten. »Es gibt in der Tat auch Vereine und Einzelpersonen, die den Suizid heroisieren«, sagte der Abgeordnete Michael Brand (CDU), der den Gesetzentwurf ausgehandelt hatte, damals der Zeit. Nach dem Beschluss 2015 wurde die Vereinstätigkeit bei Sterbehilfe Deutschland und Dignitas weitestgehend eingestellt. Das Gesetz verunsicherte aber auch Ärzte, die sich immer mit einem Bein im Gefängnis wähnten, wenn sie ihre Patienten zum Thema Sterbehilfe berieten.

»Wir sind sehr, sehr froh über das Urteil. Unsere Mitglieder wie Herr Feldmann sind zu Tränen gerührt. Wir werden unsere Tätigkeit jetzt sofort wieder aufnehmen«, sagte Marie-Claire Stellmann, die Leiterin der Geschäftsstelle der Sterbehilfe Deutschland in Hamburg, der Jungle World. Der Verein hatte bis 2015 Sterbewillige begleitet und i­hnen einen assistierten Suizid ermöglicht, wofür er immer wieder scharf kritisiert worden war. Stellmann verweist jedoch auf die Erfahrungen des Vereins: »Viele wollen nach einem Telefonat mit uns gar keine Sterbehilfe mehr. Wir beraten die Mitglieder umfänglich und durch mehrere qualifizierte Personen. Eine leichtfertige Sterbehilfe gibt es bei uns nicht.«

Die Auseinandersetzung über das Thema wird in Deutschland sehr erbittert geführt. Führt die Sterbehilfe zu größerer Selbstbestimmung oder untergräbt sie den Schutz des individuellen Lebens? Trotz stetig sinkender Mitgliedszahlen der Kirchen tritt gerade in der Sterbehilfedebatte deren Einfluss zutage. In den Debatten vor der Einführung des Paragraphen 217 wurden beispielsweise Experten aus dem ethischen, rechtlichen und medizinischen Bereich gehört. Von den sechs Fachleuten, die damals für eine strikte Neuregelung plädierten, hatten vier einen kirchlichen Hintergrund. Auch im Deutschen Ethikrat sitzen Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen. »Mit großer Sorge haben wir zur Kenntnis genommen, dass das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben hat. Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar«, schrieben der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, in einer gemeinsamen Erklärung vergangene ­Woche.

Aber nicht nur die beiden großen Kirchen kritisieren das Urteil, sondern auch Vertreter der Hospiz- und Palliativbewegung und Patientenorgani­sationen. »Wir sind über das Urteil entsetzt. Es sieht allein den Autonomiebegriff und vergisst, dass der Mensch Teil der Gesellschaft ist und dass es auch noch andere zu beachtende Werte gibt. Menschen haben Angst vor dem Alleinsein und einem qualvollen Tod. Hier gibt es Hilfe durch die Hospizarbeit und Palliativmedizin. Ein schneller Suizid darf keine Antwort auf diese Sorgen und Nöte sein«, sagte Benno Bolze, der Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands, der Jungle World. Die Bundesärztekammer zeigte sich ebenfalls alarmiert. »Die Gesellschaft als Ganzes muss Mittel und Wege finden, die verhindern, dass die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung zu einer Normalisierung des Suizids führt«, schrieb der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, in einer Presseerklärung. Zehn von 16 Landesärztekammern untersagen die Suizidhilfe ohnehin in ihrer Berufsordnung.

Häufig geraten in der Diskussion die bestehenden Verhältnisse aus dem Blick. Angesichts der Mängel im Gesundheitswesen und einer alternden Gesellschaft wird die Zahl der Fälle wahrscheinlich zunehmen, in denen ältere Menschen mit der Sterbehilfe eine jahrelange Pflegebedürftigkeit vermeiden, ihre Angehörigen vor einer vermuteten Belastung bewahren oder schlicht der Einsamkeit entkommen wollen. Und es geht nicht nur um den Tod im Alter. »Die Tür ist geöffnet. Es wird so sein, dass jemand, der sich nicht mehr bewegen kann, Hilfe beim Suizid haben möchte. Noch ist eine  Tötung auf Verlangen in Deutschland nicht erlaubt, aber wie weit oder wie kurz ist dann dieser Weg dorthin?«, gibt Bolze zu bedenken. Dann wären niederländische Verhältnisse nicht mehr weit. Die aktive Sterbehilfe begann auch in den Niederlanden bei Schwerkranken und Patienten am Lebensende, mittlerweile erhalten sie unter gewissen Bedingungen auch Minderjährige und psychisch kranke Menschen.

Die Verfassungsrichter haben in ihrem Urteil auch darauf verwiesen, dass es weitergehender Regelungen bedarf, etwa zu Beratungspflichten, Wartezeiten oder zum Nachweis der Ernsthaftigkeit eines Todeswunsches. Erste Reaktionen aus der Bundespolitik zeigen, dass eine neue Diskussion ansteht. Noch in dieser Wahlperiode solle eine Neuregelung der Sterbehilfe verabschiedet werden, sagte vergangene Woche die Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese (SPD), die maßgeblich an dem Gesetzesvorhaben 2015 beteiligt war. Und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte, dass das Gericht dem Gesetzgeber »ausdrücklich einen Spielraum« gegeben habe. Die Sterbehilfe ist also noch lange nicht geregelt.