Lorenzo Vidinos Studie über die Muslimbruderschaft in den westlichen Ländern

Geld, Wählerstimmen und Nicht-bin-Laden-Sein

Das geheime Netzwerk der Muslimbruderschaft hat sich in Europa und den USA etabliert. Der US-amerikanische Extremismus­forscher Lorenzo Vidino hat mit prominenten Aussteigern gesprochen. Seine Studie »The Closed Circle« zeigt, wie die Ableger der Bruderschaft in den westlichen Ländern organisiert sind.

Interviews mit Aussteigern sind eine geeignete Methode, um Einblick in geschlossene Organisationen und abgeschottete Milieus wie die der Muslimbruderschaft zu erhalten. Lorenzo Vidino, der Direktor des »Program on Extremism« an der George Washington University in Washington, D.C., hat mit der gerade erschienenen Studie »The Closed Circle: Joining and Leaving the Muslim Brotherhood in the West« eine Analyse der Strukturen vorgelegt, die sich vor allem auf Aussagen ehemaliger Funktionäre stützt. Vidino betont, dass die Muslimbruderschaft nicht allein die 1928 von Hassan al-Banna gegründete Mutterorganisation des Islamismus umfasst, sondern ein weltweites Netzwerk von Organisationen darstellt.

Eine wichtige Erkenntnis aus den mit sieben ehemaligen Muslimbrüdern geführten Interviews ist die Existenz einer elitären »Kernbruderschaft«, die die Eingeweihten öffentlich aggressiv leugnen. Die Kernbruderschaft sei in Europa ähnlich organisiert wie in den arabischen Ländern. Der Rekrutierungsprozess dauere in der Regel mehrere Jahre, in denen man sich in Lesekreisen mit islamistischer Literatur beschäftigt und Vorfeldorganisationen zuarbeitet. Zur Strategie der Geheimhaltung gehöre, dass die Angeworbenen über die Organisationsstruktur im Unklaren gelassen werden. So stellte der in in Schweden geborene ehemalige Muslimbruder Pierre Durrani erst nach seiner Aufnahme fest: »Im Grunde habe ich einer Organisation geholfen, von deren Existenz ich nichts wusste.« Durrani wurde während seiner Studienzeit am Europäischen Institut für Geisteswissenschaften in Paris, einer zentralen Bildungsstätte der Muslimbruderschaft im Westen, in den inneren Kreis aufgenommen und war danach in Schweden tätig. Mittlerweile hat er sich von den Muslimbrüdern abgewandt und kritisiert sowohl die organisatorischen Strukturen als auch das fundamentalistische Gedankengut offen.

Die kleinste Einheit in der Organisation der Muslimbruderschaft ist die usra (Familie). Diese Gruppen bestehen aus fünf bis zehn beitragspflichtigen Mitgliedern, die sich wöchentlich treffen, um gemeinsam etwa Schriften wie die von Yusuf al-Qaradawi, dem wichtigsten Ideologen der Muslimbruderschaft, zu lesen. Die usra bildet das engste soziale Umfeld ab, in dem man sich auch in persönlichen oder finanziellen Belangen unterstützt. Mehrere »Familien« bilden eine eine Regionalvertretung, die sogenannte shura (Versammlung, Rat), die aufgrund geringer Mitgliederzahl in manchen westlichen Ländern zugleich eine Landesvertretung sein kann.

Die Muslimbruderschaft ist strikt hierarchisch organisiert. Dieser Autoritarismus sorgt nicht nur bei den im Westen aufgewachsenen Mitgliedern für Ärger, sondern ist auch in arabischen Ländern regelmäßig ein Streitpunkt. Unzufriedenheit mit der klandestinen Struktur der Muslimbrüder gebe es aber vor allem bei Mitgliedern in den westlichen Ländern, so Vidino. Nach der historischen Erfahrung brutaler Verfolgung der Muslimbruderschaft in den arabischen Ländern werde die Strategie der Geheimhaltung von den dortigen Mitgliedern weitgehend akzeptiert, während die im Westen tätigen Mitglieder sie eher in Frage stellten.

Einfluss auf demokratische Parteien im Westen zu nehmen, ist Teil der Strategie. Dabei folgt die Entscheidung, welchen Parteien man sich anschließt, selten inhaltlichen Gründen, sondern ist in der Regel das Ergebnis kühlen Machtdenkens.

Der 1939 in Ägypten geborene, derzeit in London lebende Islamist Kamal Helbawy wandte sich von der Muslimbruderschaft ab, weil er die Verschleierungstaktik ablehnte. Im Interview sagte er: »Wir verkaufen kein Opium oder Drogen, wir propagieren die da’wa (etwa: Ruf zum Islam) (…) Und ich möchte mich nicht für die Auswahl meines da’wa-Programms schämen.« Helbawy gehörte der ersten Generation der Muslimbrüder in Europa an. Er gründete in London sowohl den Muslim Council of Britain (MCA) als auch die Muslim Association of Britain (MAB). Der MCA ist Vidino zufolge eine von der Muslimbruderschaft beeinflusste Organisation; aktive Mitglieder der Bruderschaft übernehmen dort zentrale Aufgaben, sie steht aber auch Nichtmitgliedern offen. Die MAB gilt Vidino dagegen als Ableger der Muslimbruderschaft mit direkten Verbindungen zum Kern

Die Interviews machen deutlich, dass die einzelnen Organisationen eng miteinander vernetzt sind. Innerhalb der Strukturen der Muslimbruderschaft gibt es eine starke Arbeitsteilung und Spezialisierung. Manche Funktionäre sind für die Missionierungsarbeit zuständig, andere werden für die politische Lobbyarbeit oder für die Finanzierung ausgebildet. Die Arbeitsteilung ist eingebettet in eine langfristige Strategie. Der ehemalige dänische Funktionär Ahmed Akkari sagte Vidino: »Wir haben verstanden, dass der Westen kurzsichtig ist (…) und im Grunde drei Dinge von uns verlangt: Geld, Wählerstimmen und nicht bin Laden zu sein.«

Der islamistische Prediger Yusuf al-Qaradawi vertritt seit langem die Position, man solle den Westen mittels da’wa und nicht durch Gewalt islamisieren. Die Absage an Gewalt bleibt jedoch taktisch; in bestimmten Fällen gilt Terror weiter als ein legitimes Mittel, etwa im Kampf gegen die »israelische Besatzung« oder die US-amerikanische Militärintervention im Irak 2003. Die Strategie des »Nicht-bin-Laden-Seins« ist so erfolgreich, dass in zahlreichen Ländern der Muslimbruderschaft nahestehende Organisationen in die Präventionsarbeit gegen den Jihadismus einbezogen werden.

Einfluss auf demokratische Parteien im Westen zu nehmen, ist Teil der Strategie. Dabei folgt die Entscheidung, welchen Parteien man sich anschließt, selten inhaltlichen Gründen, sondern ist in der Regel das Ergebnis kühlen Machtdenkens. In Schweden arbeiten die Muslimbrüder Pierre Durrani zufolge schon seit den neunziger Jahren mit der sozialdemokratischen Sveriges socialdemokratiska arbetareparti (SAP) zusammen. 1999 wurde diese Kooperation offiziell, als der von Muslimbrüdern dominierte Sveriges muslimska råd (SMR, Schwedischer Muslimrat, eine Dachorganisation ähnlich dem deutschen Zentralrat der Muslime) eine Vereinbarung mit der SAP schloss, in der eine Quote für muslimische Kandidaten festgelegt wurde. Weil der islamische Partikularismus häufig unter dem Deckmantel des Multikulturalismus vorgetragen wird, sind sozialdemokratische und grüne Parteien häufig wichtige Anlaufstellen.

Aber auch konservative Parteien mit einem traditionellen Verständnis von Familie und Geschlechterrollen gelten als Bündnispartner. Die Karriere des schwedischen Politikers und islamischen Funktionärs Abdirizak Waberi ist dafür beispielhaft. Waberi war Präsident des schwedischen Muslimbruderschaftsablegers Islamiska förbundet i Sverige (Islamische Union in Schweden), Vorstandsmitglied beim SMR und Vizepräsident der europaweiten Dachorganisation Federation of Islamic Organizations in Europe. 2010 wurde er für die konservative Gemäßigte Sammlungspartei ins Parlament gewählt und war Mitglied des Verteidigungsausschusses.

Die pragmatische Bündnispolitik der Bruderschaftsorganisationen führt regelmäßig zu internen Konflikten. Gerade die jungen und idealistischen Mitglieder sind oft überrascht und enttäuscht vom politischen Kalkül der Führung. So auch der lange Zeit in Dänemark aktive Funktionär Ahmed Akkari. Er verließ die Organisation schließlich, indem er im Libanon einen Brief an das lokale Oberhaupt übergab, der seinen Austritt aus der Bruderschaft erklärte. Ein Grund für ihn sei die Zurückhaltung der Organisationen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft im Streit über die Mohammed-Karikaturen 2005 gewesen: »Es war nicht: ›Wir empören uns wegen des Propheten‹, sondern eher: ›Was können wir aus dieser Situation gewinnen?‹«

Deutlich wird in den Interviews, dass nicht wenige jüngere Mitglieder in den westlichen Ländern die Etablierung eines regionalen Islam anstreben. Sie identifizieren sich mit dem Land, in dem sie aufgewachsen sind, sehr viel stärker als mit der arabisch geprägten internationalen umma, der Gemeinschaft der Gläubigen. In der Führung der Muslimbruderschaft lehnen jedoch viele die westliche Gesellschaft ab. Das Festhalten an konservativen islamischen Positionen bei gleichzeitiger Akzeptanz demokratischer Prinzipien wird häufig mit dem Begriff Postislamismus gefasst. Welche Relevanz dieser Entwicklung zukommt, bleibt abzuwarten.

Dass die Strukturen der Bruderschaft in Deutschland im Buch kaum eine Rolle spielen, ist überraschend. Auf Nachfrage erklärte Vidino dazu: »Deutschland ist enorm relevant im Netzwerk der europäischen Muslimbruderschaft und sowohl historisch als auch von der Mitgliederzahl und der Bedeutung der Kernaktivisten eines der wichtigsten Länder. Aber das Buch basiert auf Interviews mit Ehemaligen. Obwohl ich es versucht habe, konnte ich niemanden aus Deutschland finden.«

Gerade deutsche Aussteiger könnten demnach sowohl wichtige Erkenntnisse und entscheidende Fingerzeige zur Bekämpfung des legalistischen Islamismus liefern. Trotz der Tatsache, dass die Studie hier eine Lücke aufweist, dürfte »The Closed Circle« ein Schlüsselwerk bei der Analyse der gegenwärtigen Muslimbruderschaft darstellen. Nicht zuletzt aufgrund der verlässlichen Aussagen über deren verdeckte Strukturen im Westen ist dem Buch eine große Leserschaft zu wünschen.

Lorenzo Vidino: The Closed Circle. Joining and Leaving the Muslim Brotherhood in the West. Columbia Studies in Terrorism and Irregular Warfare. Columbia University Press 2020, 296 Seiten