Inklusive Mode
Wenn in Tel Aviv im Sommer kurz nach halb sechs die Sonne aufgeht, beginnt der Tag von Avishai Reiner. Der 25jährige BWL-Student fährt jeden Morgen mit seinem Rad zum Strand nach Tel Baruch im Norden der Stadt, um erst mal 20 Kilometer zu joggen und eine knappe Stunde im Meer zu schwimmen. Reiner ist Paratriathlet und bereitet sich so auf die Paralympics in Tokio vor, die pandemiebedingt erst 2021 stattfinden werden.
Reiner gehört zu den über eineinhalb Millionen Menschen in Israel, die mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung leben. Das sind knapp 21 Prozent der Bevölkerung. Israel verfügt über zahlreiche Integrations- und Bildungsangebote für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Einige besuchen sonderpädagogische Einrichtungen oder spezielle Klassen in einer Regelschule. Die Mehrheit ist in reguläre Schulklassen integriert.
»Als Mensch mit körperlicher Einschränkung ist die für mich zugeschnittene Kleidung eine Art Ausdrucksmittel. Mode kann eine enorme Veränderung bewirken, nicht nur in der Art und Weise, wie eine Person aussieht, sondern durch ein Gefühl der Zufriedenheit und des Stolzes auf sich selbst.«
Avishai Reiner, Model und Paratriathlet
Das Rehabilitationsdorf Aleh Negev liegt in der Nähe des Gaza-Streifens. Es wurde 2003 von dem ehemaligen Generalmajor Doron Almog gegründet, dessen Sohn bis zu seinem Tod in der Einrichtung lebte. Das Rehabilitationszentrum beherbergt 220 Kinder und junge Erwachsene und betreut rund 12 000 Patienten ambulant. Das Engagement des hochrangigen Offiziers für die Integration von Behinderten ist kein Einzelfall bei den israelischen Streitkräften. Das IDF-Programm »Special in Uniform« wurde eingerichtet, um junge Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in die Armee zu integrieren, etwa im Bereich von Computeranalysen im Militärgeheimdienst. Die Ausbildung verschafft den Absolventen auch für die Zeit nach dem Wehrdienste gute Chancen in der Hightech-Branche.
Unter den Menschen, die mit einer körperlichen Beeinträchtigung leben, sind auch viele Überlebende von Terrorangriffen sowie Kriegsveteranen der IDF. Zu Letzteren gehört auch Avishai Reiner. Während des jüngsten Gaza-Kriegs im August 2014 wurde er im Häuserkampf durch eine Panzerabwehrrakete der Hamas so schwer verletzt, dass sein Bein amputiert werden musste. Eine Prothese ermöglicht es ihm, zu laufen und auch weiterhin zu trainieren. Nebenbei arbeitet er als Model für Modelabels, die Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe entdeckt haben. »Schon in meiner Schulzeit habe ich gemodelt, doch nach meiner Verletzung blieben die Aufträge erst mal aus«, erzählt er. »Seit es aber immer mehr Designer gibt, die sich auf Menschen mit Behinderungen fokussieren, bin ich als Model wieder gefragt.«
Seit einigen Jahren gestalten immer mehr israelische Modelabels Garderobe für Männer und Frauen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Einige Labelgründer leben selbst mit einer physischen Behinderung und verbinden ihre eigenen Erfahrungen mit Innovationen in der Modeindustrie. »Diese Firmen produzieren nicht nur Kleidung für Leute wie mich, sondern arbeiten auch mit uns in den Werbekampagnen und Modeschauen zusammen«, erzählt Reiner. »Dadurch wirken ihre Produkte viel authentischer.«
Einer seiner Auftraggeber ist die Modefirma Palta. Diese haben der Designer Shay Senior und Netanel Yehuda Halevi, der sich sozialpolitisch engagiert, 2018 gegründet. Senior hat seit seiner Armeezeit eine Armverletzung, sein Geschäftspartner Halevi ist aufgrund einer Muskelerkrankung auf den Rollstuhl angewiesen.
Palta ist auf Hebräisch ein Akronym für den Ausdruck »den anderen helfen«. Das Label, bei dem Designer und Entwickler arbeiten, die selbst taub oder blind sind, will Mode für Menschen mit Behinderung und solche ohne anfertigen. »Unsere Sachen werden zuerst für denjenigen mit der größtmöglichen Behinderung hergestellt«, sagt Senior. »Danach fertigen wir das Kleidungsstück so an, dass es auch für jeden anderen Konsumenten tragbar ist. Ich habe selbst Schwierigkeiten beim Zuknöpfen, und so entwickelten wir eine Variante mit mehreren Möglichkeiten, zum Beispiel mit Magneten, so dass ich das jetzt mit einem Arm oder mit dem Handgelenk machen kann.«
Palta bietet 13 Produktvarianten an, die alle in Israel in umweltfreundlichen Verfahren und hauptsächlich aus Biobaumwolle hergestellt werden. Auch hat jedes Kleidungsstück ein Etikett zum Scannen. So können blinde Menschen über ihr Smartphone einiges über die Textilien erfahren, zum Beispiel Produktbezeichnung, aber auch Farbe, Größe und Pflegehinweise. »Wir haben diese Technologie im eigenen Haus entwickelt und können sie bei jedem Modell hinzufügen, damit blinde Menschen in Bezug auf ihre Garderobe unabhängig sind«, erklärt Senior. Palta hat seinen Unternehmenssitz in Tel Aviv in der Bibliothek des Coworking Space für Start-ups mit gemeinnützigem Charakter. Das Unternehmen hilft Schülern mit körperlicher Behinderung, Bewerbungsmappen zu erstellen.
Seine Kunden kommen hauptsächlich aus Israel und den USA. Palta hat auch schon Aufträge aus Südamerika und Spanien erhalten und ist offiziell damit betraut, das israelische Paralympics-Team einzukleiden. Die Sportler und Sportlerinnen werden bei der Eröffnungsfeier in Tokio 2021 von Palta entworfene Kleidung tragen. Die Firma hofft, damit international noch bekannter zu werden.
Den Paralympics widmete sich jüngst auch das renommierte Shenkar College für Ingenieurwesen und Design bei Tel Aviv. In einem über mehrere Jahre laufenden Projekt »Good Intentions« entwickelten 24 Studenten in Zusammenarbeit mit dem Israelischen Paralympischen Komitee maßgeschneiderte Kleidungsstücke und Sportgeräte für zwölf Teilnehmer und Teilnehmerinnen der nächsten globalen Sportwettbewerbe für Behinderte. Jeder Athlet arbeitete mit jeweils zwei Studenten zusammen. Am Ende des Semesters präsentierten die Nachwuchsdesigner die Entwürfe im Rahmen ihrer Abschlussprüfung. »Normalerweise gestaltet jeder Student für die gleiche perfekte Figur«, erklärt Maya Arazi, Dozentin für Modedesign. »Das Besondere an diesem Projekt war die Anpassung und der Zuschnitt auf Individuen.«
Die Meisterstücke der Schüler entsprechen nicht nur auf den körperlichen Bedürfnissen der Models, sondern reflektieren auch deren persönlichen Stil. Die Studenten sollten verstehen, wie die Körper der Athleten funktionieren, und in deren Welt eintauchen. »Die Studenten kreierten nicht nur den Schnitt der Kleidung, sondern auch die Stoffe. Bei Sportlern, die eine Prothese tragen, mussten sie die Körpertemperatur berücksichtigen und mit leichten, aber haltbaren Stoffen arbeiten«, sagt die Projektleiterin.
Bei der abschließenden Präsentation auf dem Catwalk wurde Kleidung für Triathleten und Schwimmer gezeigt. Präsentiert wurden auch weit geschnittene Regenjacken für Sportschützen und Boccia-Spieler, ein Outfit für Tennisspieler, das eine Fußprothese berücksichtigt, sowie Kostüme für die Weltmeisterschaft im Rollstuhltanz. »Angefangen bei der Materialentwicklung bis hin zur Kreation der Kleidungsstücke hat sich gezeigt, wie wichtig ein interdisziplinärer Ansatz ist, gerade wenn es darum geht, auf konkrete menschliche Bedürfnisse einzugehen«, sagt Arazi.
Avishai Reiner gehörte bei »Good Intentions« zu den gefragten Models und wird mittlerweile von verschiedenen israelischen Bekleidungsunternehmen gebucht. »Das Konzept des Shenkar College war interessant, und dadurch kam ich in Kontakt mit weiteren Firmen aus diesem Bereich«, erzählt er. »Erst kürzlich wurde ich von der ehemaligen Hightech-Analystin Einav Besser und ihrem exklusiven Modelabel Mikita für eine Fotosession gebucht.« Doch auch für die Kinderbekleidungsfirma Abba’le Arba (Hebräisch: Vater von vier) stand er schon als »Familienvater« vor der Kamera und auch bei der durch die Pandemie vorläufig gestoppten Werbekampagne für das Online-Modehaus Miricle wird er demnächst modeln.
»Als Mensch mit körperlicher Einschränkung ist die für mich zugeschnittene Kleidung eine Art Ausdrucksmittel«, sagt Reiner. »Sie kann eine enorme Veränderung bewirken, nicht nur in der Art und Weise, wie eine Person aussieht, sondern durch ein Gefühl der Zufriedenheit und des Stolzes auf sich selbst.«